: „Zum ersten Mal in meinem Leben wirklich Herrin meiner selbst“
Elke Schilling, Jahrgang 1944, hat das Seniorentelefon Silbernetz in Berlin gegründet. Sie ist ein Workaholic, lebt allein und versucht, jeden Tag etwas Sinnvolles zu tun
Protokoll Plutonia Plarre
Elke Schilling wird 1944 in Leipzig geboren. Die Diplom-Mathematikerin ist von 1994 bis 1998 Staatssekretärin für Frauenpolitik in Sachsen-Anhalt (B90/Grüne); danach arbeitet sie freiberuflich als Beraterin und Mediatorin. Seit 2009 ist sie Rentnerin.
Schilling ist Gründerin und Motor des Seniorentelefons Silbernetz: Ein dreistufiges Angebot für Menschen ab 60 mit Einsamkeitsgefühlen. In Berlin ging die Hotline im Herbst 2018 ans Netz, seit dem Frühjahr 2020 existiert sie bundesweit und ist unter der kostenlosen Rufnummer 0800 4 70 80 90 zu erreichen – dort haben seit März bislang rund 40.000 Menschen angerufen.
Ich bekomme öfter zu hören, dass ich eine junge Stimme habe. Für meinen Begriff liegt das daran, dass ich sehr gern lache. Das hält die Stimme frisch. Meine Enkeltöchter sagen: Oma, du bist ganz anders als andere Omas. Es freut mich natürlich, dass sie so positiv auf mich reagieren.
Von Hause aus bin ich Diplom-Mathematikerin, habe aber auch in etlichen anderen Berufen gearbeitet.
Von der Erwerbstätigkeit in die Rente, das war für mich ein ungeheuerlicher Gewinn an Freiheit. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich wirklich Herrin meiner selbst. Vorher war ich immer von irgendwelchen Notwendigkeiten abhängig: Gebraucht, gedrängt, eingeengt. Das ist jetzt anders.
Ich habe eine Rente, die nicht üppig ist, aber leben lässt. Das ermöglicht mir, das zu machen, wozu ich Lust habe. Das heißt auch, was ich an Kenntnissen und Fertigkeiten erworben habe, sinnvoll einzusetzen.
Als Erstes bin ich von Sachsen-Anhalt nach Berlin zurückgezogen. Drei Monate später habe ich am Rathaus Wedding den Aushang gesehen: Seniorenvertreter werden gewählt. Da habe ich gedacht: Wow, eine neue Herausforderung. Als Seniorenvertreterin kann ich nutzen, was ich kenne – IT, Verwaltung, Strukturen des öffentlichen Lebens, Umgang mit den Medien. Neu war die Auseinandersetzung mit Alter.
Ich war sieben Jahre Senioren-Vertreterin. Da ist mir das Thema Einsamkeit bewusst geworden. Mir fiel auf, dass ein nicht unerheblicher Anteil der Alten aus der Öffentlichkeit verschwindet, einfach nicht mehr erreichbar ist. Den letzten Anstoß erhielt ich, als mein alter Nachbar drei Monate tot in seiner Wohnung gelegen hat. Ja, mein unmittelbarer Nachbar, Wand an Wand mit mir. Als ich merkte, wie er sich zurückzog, hatte ich ihm Hilfe angeboten, was er abwehrte. Er wurde gefunden, nachdem ich den Vermieter anrief, weil in meiner Wohnung immer mehr Fliegen waren. Danach bin ich aktiv geworden. Ich bin nach London gefahren und habe mir das Seniorentelefon Silverline angeschaut. Und dann habe ich ein solches Telefon in Berlin gegründet: Silbernetz. Damit ältere Menschen nicht dieses Ende nehmen: einsam, vergessen, tot.
Ich bin immer ein Mensch gewesen, der in der Gegenwart lebt. Der das Hier und Jetzt genießt. Die Zeit rennt, aber sie läuft mir nicht davon. Mein Gefühl ist, dass ich jeden Tag irgendetwas mache, was Sinn hat. Oftmals bin ich viel zu erschöpft, um abends Bilanz zu ziehen. Ich bin ein Workaholic.
Es gibt natürlich Dinge, die sind nicht mehr so easy wie vor zwanzig Jahren. Meine 81 Stufen renne ich nicht mehr ganz so schnell hoch. Aber geistig und auch, was die Reaktionsschnelligkeit angeht, habe ich noch keine Veränderungen festgestellt. Ich fahre Rad, sooft ich kann, 10 oder 15 Kilometer am Tag. In Berlin muss man ja höllisch aufpassen. Neulich kam mir ein Autofahrer in die Quere, ich kam vor ihm zum Halten.
Wenn ich mich in der Öffentlichkeit umschaue, gibt es nur zwei Bilder von den Alten: Die pflegebedürftigen Multimorbiden und die topfitten, hochgestylten Power-Alten. Es gibt kein Dazwischen; ich bin dazwischen. Die Vielfalt wird nicht sichtbar.
Ein Teil der Autonomie
Ich habe zwei Töchter und fünf Enkel. Wenn ich sie wirklich brauche, sind sie da. Aber ich bin froh, dass ich sie noch nicht brauche. Ich selbst lebe allein, auch das ist ein Teil dieser Autonomie, die ich sehr schätze. Nach drei Trennungen von unterschiedlichen Partnern und Partnerinnen habe ich festgestellt, dass ich zu nahen Beziehungen nicht fähig bin.
Natürlich gibt es Momente, wo ich denke, es wäre schön, gerade jetzt mal in den Arm genommen zu werden. Und dann gucke ich mir den Preis dafür an und sage mir: ach, lieber nicht. Es gibt einfach Gewohnheiten, auf die ich um einer engen Beziehung willen nicht mehr verzichten würde. Ich bin glücklich, dass ich viele gute Bekannte habe und auch zwei Freundinnen. Der einen bin ich seit 57 Jahren verbunden.
Wenn ich über den Tod nachdenke, dann in diesem Sinne: Ich lebe mit aller Leidenschaft, die mir zur Verfügung steht, und wenn es zu Ende ist, dann ist es auch gut so. Ich bin froh, wenn ich im Bekanntenkreis von einem Todesfall höre, wo jemand von jetzt auf gleich gegangen ist.
Ich bin eine, die Konsequenzen zieht, wenn es unerträglich wird. Ich ziehe Grenzen und bin sehr neugierig. Als Mathematikerin war mir Logik immer wichtig. Das Soziale hat sich mir eigentlich erst später erschlossen. Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass immer auch Gutes im Schlechten ist und umgekehrt. Dass jede Medaille zwei Seiten hat. Das zu erkennen ist ein Geschenk.
Als alter Mensch bestimmt sich mein Wert nicht mehr aus dem, was ich mit Arbeit verdiene. Es geht um Sinn und Selbstwert. Was kann ich? Was will ich? Was macht mich glücklich? Wenn jemand den Drang verspürt, gesellschaftlich sinnvoll tätig zu sein – ja!
Alter ist ein Tabu. Als Senioren-Vertreterin bin ich innerlich zusammengezuckt, als eine Dame von 87 zu mir sagte: „Wissen Sie, in eine Begegnungsstätte gehe ich nicht. Da sind nur alte Leute.“ Viele Alte hängen in solchen negativen Stereotypen, das ist schade.
Dahinter verbirgt sich der Jugendwahn unserer Gesellschaft und die Ignoranz gegenüber den Reichtümern des Alters.
Es gibt einfach Dinge, die kann ich nur als alter Mensch tun. Wenn ich das nicht sehe, weil mir meine Vorurteile im Weg stehen, versäume ich ganz viel.
Ich erlebe keinen Generationenkonflikt – ganz im Gegenteil: Nicht nur beim Silbernetz wollen Junge und Alte miteinander reden.
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