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Vertagte Kunst für die vertagte Messe

Zum zweiten Mal in diesem Jahr fallen großangelegte Projekte des Braunschweiger Kunstvereins einem Lockdown zum Opfer. Nur hat man dort inzwischen eine produktive Routine im Umgang mit Zuständen entwickelt, die eigentlich keiner will

Ein Verweis, ja, aber worauf? Jeneen Frei Njootli legt Spuren ihrer An- und Abwesenheit vor dem Ausstellungsraum beim Kunstverein Braunschweig Foto: Stefan Stark/Kunstverein Braunschweig

Von Bettina Maria Brosowsky

Das komme ihr alles so furchtbar bekannt vor, sagt Jule Hillgärtner, Direktorin des Kunstvereins Braunschweig: dieser neuerliche Lockdown kurz vor der Eröffnung einer großen Ausstellung. Ende März wurde ja bereits der Start der künstlerischen Recherche „The Faculty of Sensing“ zu Ehren des ersten Schwarzen Philosophen in Deutschland, dem am Braunschweiger Herzogshof aufgewachsenen Anton Wilhelm Amo, vereitelt. Ein mehrtägiges internationales Symposium musste abgesagt werden. Die flexible Förderung durch die Kulturstiftung des Bundes ermöglichte es dem Kunstverein aber, Inhalte zu den einzelnen Arbeiten, Künstlerporträts und vertiefendes Material über einen wöchentlichen Newsletter und online zu verbreiten – eine gute Vorbereitung auf den Besuch der Ausstellung, die im Sommer dann auf große Resonanz stieß.

Nun ist es ein nicht minder prominentes Vorhaben, das wenige Tage vor seiner Eröffnung gezwungen wurde, geschlossen zu bleiben: eine Ausstellung mit drei kanadischen Künstlerinnen, ein offizieller Kulturbeitrag des Ehrengastes der diesjährigen Frankfurter Buchmesse, Kanada. Die Messe wurde mit radikal verminderter Präsenz weitgehend ins Digitale verlegt, Kanada hat seinen physischen Auftritt auf 2021 verschoben. Aber, so Hillgärtner, sie hätte mit ihrem Team mittlerweile eine gewisse Routine für Situationen, die eigentlich niemandem gefallen können. So sind für den Aufbau eingespielte 2er-Teams zuständig, und, da die Künstlerinnen nicht anreisen konnten, um ihre ortsspezifischen Arbeiten eigenhändig zu finalisieren, gab es virtuelle Abstimmungen – wegen der Zeitverschiebung dann fast rund um die Uhr. Es bleibe allerdings der abstrakteste, unpersönlichste Aufbau, den sie je erlebt habe, fasst sie zusammen. Das Ziel war eine fotografier- und kommunizierbare Ausstellung, die nun erst einmal wieder per Newsletter und online vorgestellt wird: eine Arbeit pro Woche und Statements der Künstlerinnen per Video.

Die drei Beteiligten, Nadia Belerique, Jeneen Frei Njootli und Kathy Slade, lernte Hillgärtner 2019 in Vancouver kennen, sie und weitere Kurator:innen waren im Vorfeld der Buchmesse für zehn Tage durch die kanadische Botschaft eingeladen. Sie absolvierte dort ein stattliches Programm mit sechs Terminen täglich: Ausstellungen, Gespräche, Atelierbesuche. Mit von der Partie war Kathleen Rahn vom Kunstverein Hannover, sie verschob allerdings ihre für September geplante erste deutsche Retrospektive des Computervideo-Stars Jon Rafman, als Vorwürfe sexualisierten Machtmissbrauchs gegen den Künstler ruchbar wurden.

Der Kunstverein Braunschweig versammele nun drei kontrastierende Positionen, setze sie gemäß den unterschiedlichen „Temperaturen der Räume“, so Hillgärtner, in Dialoge. Nadia Belerique, 1982 in Toronto geboren, arbeitet mit fotografischen Mitteln, manipulierten Lichtsituationen und industriellen Alltagsprodukten, die sie installativ und mit absurdem Humor verschränkt. Für ihre kinetische Apparatur „How Long is Your Winter“ verwendet sie handelsübliche, mit spießigen Textildekors bedruckte Vertikallamellen, die sie allerdings ohne Bezüge zu den Fensterflächen über Wände und Teile der Öffnungen rauschen lässt.

Eine mechanische Choreografie dreht, öffnet und schließt die ohnehin wenig sinnfällige Lamellenanordnung, gibt partiell Blicke nach draußen oder auch nur auf die ansonsten verdeckten Wandflächen frei: alternative Realitäten, wenn man so will. Damit arbeitet auch ihre große neue Arbeit „Holdings“ im repräsentativen Spiegelsaal: eine Wand aus industriellen Plastikfässern für Lebensmittel und Flüssigkeiten – aber auch den Transport persönlicher Habseligkeiten auf Migrationsrouten, wie Belerique detailreich simuliert.

Jeneen Frei Njootli, 1988 geboren, ist Mitglied einer indigenen Community. Ihre Themen reflektieren diese spezifische Lebenswirklichkeit mit politischem Unterton. Ihre An-, besser Abwesenheit vor Ort, symbolisieren bereits ab dem Eingangshof ausgestreute Glasperlen, die gesamte Masse entspricht ihrem Körpergewicht. Sie spielen auf die lange Kultur als prämonetäres Handelsmedium an, zitieren die flüchtigen, zur Mitnahme gedachten Arbeiten des Kubaners Félix González-Torres, stellen aber auch die existenzielle Frage, wie weit Frei Njootli sich als Person öffentlich preisgeben möchte.

Das Ziel war eine fotografierbare Ausstellung, die nun per Newsletter und online stattfindet

Durch eine Kapuzenjacke ist eine weitere junge Indigene, Chantel Moore, vertreten. Sie wurde am 4. Juni durch einen Polizisten erschossen: Für die Künstlerin ein neuerliches, grausames Beispiel der anhaltenden, weltweiten Gewalt gegen BIPOC-Angehörige (Black, Indigenous, People of Colour).

Die Dritte im Bunde, Kathy Slade, arbeitet konzeptionell an der Verschränkung von bildender Kunst und Literatur. 1966 in Montreal geboren, ist sie auch Herausgeberin und Lehrende, sie hat nun unter anderem im Obergeschoss des Kunstvereins einen Leseraum mit ihren Publikationen eingerichtet. Zur entspannten Lektüre können sich Besucher:innen in vier ­Jacquard-gewebte Decken einhüllen, die Motive der Weltliteratur wiedergeben.

Das „Gästezimmer“ nebenan hält Filme des „Fokus Kanada“ des diesjährigen internationalen Filmfestes Braunschweig vor, das, wenig cineastisch, aber geradezu prophetisch, ausschließlich online konzipiert Anfang November stattfand. In der Remise thematisiert die 1983 geborene Britin Gili Tal die Wechselwirkung von digitalen und analogen Bildwirklichkeiten. Ihre großen „Shutters“, abstrahierte Fensterläden, sind im Innenraum angeordnet, verwenden „Shutterstock“-Motive symbolischer Regenschauer. Die Hoffnung von Jule Hillgärtner, zumindest über Weihnachten öffnen zu dürfen, hat sich nun auch zerschlagen, sie arbeitet derweil aber optimistisch an dem Programm für 2021, unter anderem mit einem unterhaltsamen „Befreiungsschlag“ des in Berlin lebenden Hank Schmidt in der Beek.

Nadia Belerique, Jeneen Frei Njootli, Kathy Slade“ und „Gili Tal: The Cascades“ stehen bis zum 14. Februar 2021 im Programm, Kunstverein Braunschweig. Mehr auf www.kunstvereinbraunschweig.de

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