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Raus aus den Hinterhöfen

Der Protest in Belarus reißt nicht ab. Am 113. Protesttag sind erneut Tausende Menschen gegen Präsident Alexander Lukaschenko auf die Straße gegangen. Die Polizei nahm rund 150 Menschen fest

Von Bernhard Clasen, Kiew

Erneut haben am Sonntag trotz Schnee und Regen und Temperaturen um null Grad Tausende Menschen in Minsk und anderen belarussischen Städten für eine Neuwahl, ein Ende der Polizeigewalt und die Freilassung aller politischen Gefangenen demonstriert. „Marsch der Nachbarschaft“ lautete das Motto der Kundgebungen am 113. Protesttag.

Dezentral hatte man sich zunächst in Minsker Hinterhöfen und an 73 kurz vorher bekannt gegebenen Punkten getroffen, um anschließend in Kolonnen von mehreren Dutzend bis tausend Protestierenden durch die Straßen der Hauptstadt zu ziehen. Einigen Kolonnen gelang es in Minsk, sich zu vereinigen. Oft wurden Straßenkreuzungen für kürzere Zeit blockiert. Die Opposition hatte sich für diese neue dezentrale Aktionsform entschieden, um der Polizei Festnahmen zu erschweren. Da nur wenige Teilnehmer Symbole der Opposition mit sich führten, fiel es der Polizei am Sonntag sichtlich schwer, Demonstranten von gewöhnlichen Fußgängern zu unterscheiden.

Gänzlich verhindern ließen sich Festnahmen und Misshandlungen von Demonstranten und Passanten jedoch nicht. Auf der Puschkinstraße in Minsk wurde eine Person von der Polizei bewusstlos geschlagen. In den Minsker Stadtteilen Selenij Bor und Uruchcha feuerten Polizisten auf einem Parkplatz Warnschüsse ab. In Minsk, Witebsk, Schodino, Brest, Borowljany, Boranowitschi, Dserschinsk und Hrodno wurden Demonstranten von Polizisten, die in Hinterhöfen und auf Straßen Demonstranten jagten, festgenommen. Am Nachmittag berichtete die Menschenrechtsorganisation Vjasna von 146 Festnahmen.

Gezielt werden in Belarus Journalisten und Blogger Opfer von staatlicher Verfolgung und Gewalt. Weder das Gesetz noch das Wort „Presse“ auf der Kleidung schützen unabhängige Journalisten vor Übergriffen durch die staatlichen Organe. Dies berichtet der Presseclub Belarus. Seit der Präsidentschaftswahl am 9. August, so der Presseclub, seien 366 Journalisten festgenommen und 62 Opfer von polizeilichen Übergriffen geworden. 77 Journalisten hätten Arreststrafen abgesessen, gegen acht liefen strafrechtliche Ermittlungen. Auch gegen die Redakteurin des Telegram-Kanals „Mein Land Belarus“, Irina Schastnaja, wird wegen „Beteiligung an Massenunruhen“ ermittelt. Seit dem 18. November befindet sich die Administratorin mehrerer Telegram-Kanäle in Untersuchungshaft.

Ebenfalls von Haftstrafen bedroht sind die 25-jährige Maria Bobowitsch und der 26-jährige Maxim Pawljuschtschik. Ihnen wird vorgeworfen, auf ein Trottoir die Worte „Wir vergessen nicht“ gesprüht zu haben. Der Sachschaden wird von der Anklage auf 70 Euro geschätzt. Beiden droht eine Haftstrafe von bis zu zehn Jahren. Das Graffiti, so die Staatsanwaltschaft, habe die „Ästhetik der Gehsteigplatten empfindlich beeinträchtigt“.

Am Donnerstag hatte der russische Außenminister Sergei Lawrow Minsk das Land nach einem zweitägigen Besuch wieder verlassen. Er habe dem belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko Grüße von Präsident Wladimir Putin überbracht und ihm mitgeteilt, dass Putin alle getroffenen Vereinbarungen einhalten werde. Dies berichtete das weißrussische Portal naviny.media. Offenbar war diese Erinnerung auch eine Warnung vor nicht mit Moskau abgesprochenen Schritten.

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