Ärzte als Maskengegner: Nein zur Kanzelkultur

Auch Mediziner sind nur Menschen. Sie rauchen und trinken, ernähren sich schlecht und haben komische Ansichten. Sollen sie doch.

Ein Arzt zieht sich seinen Mund-Nasenschutz herunter

Mein Orthopäde ist ein Arschloch, ja, na und? Foto: Vojtech Vlk/imago

Der Orthopäde, der meinen Fuß untersucht, trägt seinen Mundnasenschutz demonstrativ schlampig. Ich selbst bräuchte keinen anzulegen, sagt er, „das ist doch eh alles Quatsch, diese Masken bringen überhaupt nichts“.

Er flucht und brummelt, murmelt und hetzt. Kurz verspüre ich den Drang, auf der Stelle zu gehen. So ein Spinner – der will ein Arzt sein? Doch dann besinne ich mich. Auch Mediziner sind nur Menschen. Sie rauchen und trinken, ernähren sich schlecht und haben komische Ansichten. Man denke nur an die Unterzeichner der „Great Barrington Declaration“, die 700 „Ärzte für Aufklärung“, die in ihren Praxen mit Handzetteln vor „Impfzwang“ warnen, oder jene mittlerweile so sprichwörtlich wie die zwölf Apostel gewordenen 107 Lungenärzte, die sich für die Segnungen des Feinstaubs fast bis zur öffentlichen Selbstverbrennung in die Bresche warfen.

Psychiater wiederum haben manchmal eine gepflegte Meise, wenngleich längst nicht so oft, wie es ihnen ein böswilliger Volksmund andichtet. Und Orthopäden sind, wie Chirurgen, ohnehin eher eine Art Klempner.

Ich will jedenfalls nicht mehr Leute pauschal für ihre Haltung abstrafen. Das ist doch überhaupt nicht meine Art. Kritisieren ja, aber nicht ruinieren. So halte ich auch nach dreißig Jahren meinem Friseur die Treue, obwohl er mir im Grunde herzlich unsympathisch ist. Seine fachlichen Qualitäten sind bescheiden – ich sehe hinterher meist aus wie ein frisch ausgewürgtes Greifvogelgewölle, und einmal hat er mir fast das Ohr abgeschnitten –, doch die menschlichen sind noch viel schlimmer. Sobald ich unter meinem Frisierumhang gefangen bin, ballert er mich nonstop mit fremdenfeindlichen Witzen der schlimmsten Sorte zu.

Aber darum wechsle ich noch lang nicht den Salon. Sonst würde er denken, dass ich ihn nur wegen seiner Äußerungen wirtschaftlich vernichten will. Das wäre doch nicht fair. Viele Kunden hat er eh nicht mehr. Mit so einer Cancel Culture will ich nichts zu tun haben.

Und zwar weniger, weil ich Angst hätte, wie in solchen Fällen üblich, vom Bürgerfeuilleton mit neunmalklugen bis rechts offenen Politbelehrungen zugeschissen zu werden. Das würde nicht passieren, denn uns kennt kein Schwein, weder mich noch den Friseur. Nein, ich bin einfach nur sensibilisiert, weil ich oft genug am eigenen Leib erfahren habe, wie es sich anfühlt, gecancelt zu werden. Und zwar auf der ganzen Linie.

Jedes meiner jüngsten Bücher wurde von sage und schreibe 7,77 Milliarden Menschen boykottiert. Nur weil es ihnen nicht gefällt, sie es nicht kennen oder mich nicht kennen, verweigern sie den Kauf. Das muss man sich mal vorstellen, das ist doch eine konzertierte Hexenjagd!

Einigen halte ich zugute, dass ihnen gar nicht bewusst ist, was für ein Zerstörungswerk sie in meiner Seele anrichten. Und die eine oder andere wird vielleicht nicht daran denken, dass ja auch ich von irgendetwas leben muss. Dafür, dass ich schreibe, was ich denke, und oft auch mal das Gegenteil oder irgendwas dazwischen, überziehen sie mich mit ihrem Vernichtungsfeldzug. Dabei beweisen doch stets ein paar hundert treue Käufer, dass es durchaus möglich ist, das Werk nicht für die Privatmeinung des Autors büßen zu lassen, oder genauer, für das, was sie für seine Meinung halten.

In der Praxis seufze ich ergeben und blicke dem Orthopäden tief in seine müden gelben Augen. Er ist ein Arschloch, ja, na und? Wer bin ich, ihn deshalb ins Elend zu stoßen? Freilich bleibt noch immer eine Restlust, ihm anschließend wenigstens auf Jameda eins überzubraten.

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Seit 2001 freier Schreibmann für verschiedene Ressorts. Mitglied der Berliner Lesebühne "LSD - Liebe statt Drogen" und Autor zahlreicher Bücher.

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