Joes Memo

Als er dieses Memo an seine Mitarbeiter schrieb, blickte Joe Biden bereits auf ein langes Leben in der Washingtoner Politspähre zurück. Jahrzehnte als Senator des Staates Delaware und, im Moment des Verfassens, seit bald fünf Jahren als Vizepräsident unter Barack Obama. Thanksgiving stand bevor im November 2014, eines der wichtigsten Familienfeste in den USA, und Biden wollte etwas klarstellen, was in all den Jahren als ungeschriebenes Gesetz für die Zusammenarbeit mit seinem „wunderbaren Stab“ gegolten hatte. Familienangelegenheiten gehen vor, die Arbeit hat dahinter zurückzustehen, so lässt es sich zusammenfassen.

Biden wählt dafür eindringliche Worte: „Ich erwarte weder noch möchte ich, dass einer von Ihnen wichtige familiäre Verpflichtungen versäumt oder für die Arbeit opfert.“ Das Fernbleiben von der Arbeit macht Biden für bestimmte Anlässe geradezu zur Pflicht, dazu zählt er Geburtstage, Jahrestage, Hochzeiten und religiöse Feste wie Erstkommunionfeiern oder Bar Mizwas, er zählt dazu aber auch Ereignisse, die nichts mit Feiern zu tun haben, sondern mit Krankheit und Tod. Zeiten, in denen Familienangehörige gebraucht werden, um zu helfen oder sie selbst Zeit benötigen, um zu trauern. Bewerte jemand in Bidens Team die Arbeit für ihn – immerhin zu dem Zeitpunkt der Vize-Präsident der Vereinigten Staaten – als wichtiger, während zu Hause die Familie auf ihn warte, werde ihn das „sehr enttäuschen“.

Bidens eigene leidvolle Erfahrung spricht aus diesem Memo, der Autounfall kurz vor Weihnachten 1972, bei dem seine Frau und die Tochter starben, die Söhne schwerverletzt überlebten. Biden entschied sich damals trotzdem für seine politische Laufbahn, aber Familie als etwas besonders Schützenswertes, etwas, an dem man Anteil haben möchte, verankerte sich in seinem Bewusstsein.

Es war der Ton dieses Schreibens, gepaart mit der historischen Situation des Endes von Obamas und Bidens Zeit im Weißen Haus zu Beginn des Jahres 2017, der mich dieses Memo hat ausdrucken und in den Räumen der taz am Wochenende hat aufhängen lassen. Es kursierte auf Twitter, als Donald Trump damals im Begriff war, das Amt des US-Präsidenten zu übernehmen. Das Schreiben sagt: Seht her, das war der Ton im Weißen Haus, und jeder wusste, dass es damit nun vorbei sein würde.

Abgesehen von dieser weltpolitischen Komponente las ich Bidens Text an seine Mitarbeiter aber auch als Handlungsanweisung im Umgang mit Kolleginnen und Kollegen, als Leitfaden, um eine richtig austarierte Balance zwischen Privatleben und Arbeit zu finden. Und wenn der Vize-Präsident der Vereinigten Staaten sagt: Selbst die Arbeit im Weißen Haus ist nicht alles, ihr habt auch noch ein Leben außerhalb, dann kann das jeder Arbeitgeber oder jeder für die Organisation eines Mitarbeiterkollektivs Verantwortliche so sagen und versuchen, es auch genau so zu leben.

Nun, nach vier Jahren unter Trump, einem Zerstörer des gelingenden Miteinanders, sind Bidens Art, Leben und Arbeit zu gestalten, und vor allem sein Ton wohl bald zurück im Weißen Haus. Das macht Hoffnung. Felix Zimmermann