: Was machen die Menschen auf der Straße?
Die Großmutter versteht nicht, warum so viele Belarussen demonstrieren. Minsker Tagebuch vom 18. 9. 20
Die 36-jährige Julia aus Minsk ist Direktorin einer Baufirma. Sie nimmt an den Protesten teil – als Zeichen der Solidarität mit denjenigen, die gelitten haben. In ihrer Familie findet sie keine Unterstützung. „Meine Großmutter ist 80 Jahre alt, mein Vater 59. Sie leben 300 Kilometer von Minsk entfernt“, erzählt sie. Als ich einmal bei ihnen war, bekam ich zu hören: „Ihr solltet Lukaschenko dankbar sein für kostenlose Wohnungen, Schulessen und die Stabilität im Land.“ (Für kinderreiche Familien gibt es günstige Baukredite, das Schulessen ist gratis).
Julias Großmutter glaubt, dass die Streiks die Wirtschaft des Landes zum Stillstand brächten, der Staat keine Steuereinnahmen mehr habe und alte Menschen ohne Rente blieben. Die Großmutter schaue nur staatliches Fernsehen und nehme alles für bare Münze. Sie glaube nicht daran, dass geprügelt werde, dabei habe sie auch das schon mit eigenen Augen gesehen. Julia streitet nicht mit ihr, das bringe eh nichts. Julia sagt, dass alle ihre Freunde und Bekannten für einen Regimewechsel seien. Die, die ein eigenes Unternehmen haben, aber auch die, die im staatlichen Sektor arbeiten.
„Meine engste Freundin arbeitet in der Präsidialverwaltung. Dort unterstützt niemand das Regime. Das Wirtschaftssystem ist schon seit zehn Jahren überholt. Die realen Indikatoren haben nichts mit offiziellen statistischen Daten zu tun. Die Aufrechterhaltung unrentabler Staatsbetriebe behindert die Entwicklung der Wirtschaft, privates Business auf allen Ebenen ist nicht geschützt.“
Julias Vater hat sie unlängst gefragt: „Töchterchen, ich glaube nicht, was sie im Fernsehen erzählen, aber ihr seid doch nur wenige auf der Straße, oder?“ Ich sage: „Nein, viele. Ich kaufe euch Kabelfernsehen und dann werdet ihr die Wahrheit erfahren.“ „Mach das lieber nicht“, hat mein Vater gesagt. „Das wird mich nur verwirren.“ Olga Deksnis
Aus dem Russischen: Barbara Oertel
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen