: „200 Euro und Studium im Ausland“
Der belarussische Menschenrechtler Andrej Strischak hat einen Fonds gegründet. Daraus werden Menschen unterstützt, die Opfer der jüngsten Repressionen geworden sind. Er glaubt fest an einen Machtwechsel – spätestens im Frühjahr 2021
Interview Olga Deksnis
taz: Herr Strischak, wann und mit welchem Ziel wurde der Solidaritätsfonds Bysol gegründet?
Andrej Strischak: Der Fonds wurde Mitte August 2020 gegründet, um denjenigen zu helfen, die aus politischen Gründen entlassen wurden. Der Erste, der Hilfe erhalten hat, ist ein Ex-Polizist. Derzeit haben wir über 300 ehemalige Milizionäre. Unter den Sicherheitsbeamten, die zur Opposition übergelaufen sind, gibt es auch Mitarbeiter des Innenministeriums, des KGB, der Staatsanwaltschaft sowie Militärs. Sie wollten gegenüber ihrem Volk ihren Treueschwur nicht brechen. Ungeachtet aller Repressionen und Bedrohungen haben sie sich geweigert, ungesetzliche und verbrecherische Befehle auszuführen sowie sich an dem gewaltsamen Vorgehen gegen ihre Mitbürger zu beteiligen.
Wer gibt dem Fonds Geld, und auf welche Summe belief sich die höchste Spende?
Die meisten sind Belarussen, die mit der Protestbewegung sympathisieren, aber auch die belarussische Diaspora weltweit. Belarus ist dort, wo Belarussen sind. Die größte Einzelspende, das waren 40.000 Euro. Doch wir wissen jeden Beitrag zu schätzen, unabhängig von der Höhe. Dann gab es einen Spender, der jeden Tag 500 Dollar geschickt hat. Neulich bekamen wir eine Überweisung, die uns besonders berührt hat: 70 Cent von einem Schüler aus Ungarn. Er schrieb: anstatt eines Sandwiches in der Schule. Am 26. Oktober wurde zum Generalstreik aufgerufen. Aus Solidarität gingen auch die Studierenden landesweit auf die Straße. Dann erteilte Lukaschenko den Rektoren der Hochschulen folgende Anweisung: Alle rausschmeißen – entweder ab in die Armee oder auf die Straße. Lehrkräfte, die sich weigerten, entsprechende Dokumente zu unterschreiben, wurden ebenfalls entlassen.
Warum haben Sie beschlossen, Studierenden zu helfen?
Wir reagieren auf die Ereignisse. Die Studierenden sind unsere Zukunft. Als sich viele an uns wandten, ist uns klar geworden, dass eine neue Kategorie von Bedürftigen entstanden ist. Alle Studierenden, die exmatrikuliert wurden, weil sie öffentlich ihre Meinung gesagt und an Streiks teilgenommen haben, bekommen eine einmalige Hilfszahlung in Höhe von 200 Euro sowie die Möglichkeit, weiter an einer Universität oder einem College in einem Land der Europäischen Union zu lernen. Jetzt spielt sich das natürlich vor allem online ab. Wer eine Beratung oder sonst solidarische Hilfe braucht, bekommt auch das.
Gab es auch komplett absurde Entlassungen?
Die waren alle absurd. Es genügt, dass du gegen die aktuelle Regierung bist, und schon kannst du gefeuert werden. Wir übernehmen jetzt die Funktion des Staates. Die Belarussen zahlen dem Fonds eine Art Steuer, um Entlassene zu unterstützen – eine Entschädigung, die eigentlich der Staat zahlen müsste. Wir helfen jedoch nur denjenigen, die seit Mai 2020 entlassen wurden. Uns ist klar, dass die Staatsmacht Menschen schon seit 26 Jahren ihren Arbeitsplatz aus politischen Erwägungen genommen hat. Doch unsere Position ist: Nach einem Machtwechsel kann jede Person vor ein unabhängiges Gericht ziehen und dort eine Entschädigung aus Mitteln des Staatshaushalts bekommen. Und alle Strafen werden für nichtig erklärt.
Hatten Sie es auch mit Betrügern zu tun?
Ja, als russische Bots unter dem Deckmantel unseres Fonds versucht haben, Gelder für ihre eigenen Konten zu sammeln. Es gab auch Fälle, dass Leute keine Dokumente oder ein medizinisches Attest vorlegen konnten. Sie haben uns dann ein Foto von ihrem Bein geschickt und darum gebeten, ihnen möglichst schnell Geld für eine Operation zu schicken. Wir haben die Leute dazu aufgefordert, uns ein Video zu schicken. Unsere Politik ist wie folgt: Wenn du im Leben aktiv bist und deine eigene Meinung hast, kannst du das auch in einem Video wiederholen. Ich schließe nicht aus, dass es trotz dieser Anforderung zu Fehlern kommt, doch diese Quote dürfte maximal bei 0,1 bis 1 Prozent liegen.
Sie halten sich derzeit nicht in Belarus auf, warum nicht?
Ich bin noch nicht Opfer von Repressionen geworden. Dennoch war ich gezwungen, Belarus zu verlassen. Als mir meine Kontakte in der Staatsanwaltschaft gesagt haben, dass dort wiederholt mein Name gefallen sei, bin ich aus Sicherheitsgründen ausgereist. Ich hoffe, dass ich bald, nach einem Machtwechsel, zurückkehren kann. Im Moment ist die Lage für meine ganze Mannschaft jedoch zu unsicher.
Wie reagiert die Staatsmacht auf Ihren Fonds?
Sie versuchen unser Unternehmen schlechtzumachen. Sie behaupten, alles sei Betrug. Angeblich seien wir ausländische Marionetten. Damit machen sie aber auch Reklame für uns. Wie Regierungschef Golowschenko, der im Staatsfernsehen gesagt hat: Die 1.500 Euro, die ein entlassener Belarusse bekommt, seien illegales Geld. Das Volk sieht das anders: Wenn die Staatsmacht sagt, das sei schlecht, denkt es: Dann nehmen wir das erst recht.
Sie haben von einem Machtwechsel gesprochen. An welches Datum denken Sie da?
Spätestens Frühjahr 2021. Die Wirtschaftslage verschlechtert sich rapide. Die besten Spezialisten haben das Land verlassen, für den Unterhalt der Sicherheitskräfte und die Absicherung der Machtposition des Staates wird der Haushalt immer weniger reichen.
Aus dem Russischen: Barbara Oertel
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