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Im Schlampenchic durch den Fallout der Achtziger

Aus dem antibürgerlichen Besetzerleben: Der Soziologe Heinz Bude, die Künstlerin Bettina Munk und die Autorin Karin Wieland haben zusammen einen Roman über das Westberlin der Achtziger geschrieben

Von Jens Uthoff

Ein Idyll aus Beton, ein Laboratorium der Lebenskunst, eine 480 Quadratkilometer große soziale Plastik: So in etwa haben Künstler, Punks und Freaks wohl das Westberlin der Achtziger erlebt. Als graublaubunte Spielwiese der ungenutzten Möglichkeiten – die bereits Sujet vieler Retrospektiven war.

Mit dem Roman „Aufprall“, den der Soziologe Heinz Bude, die Künstlerin Bettina Munk und Schriftstellerin Karin Wieland zusammen geschrieben haben, kommt nun eine wichtige Erzählung hinzu, die insbesondere die Hausbesetzerszene in den Blick nimmt. Sie handelt davon, wie ein Kollektiv junger, links tickender Menschen die Jahre 1981 bis 1989 erlebt hat und an der Erfahrung gemeinschaftlicher, antibürgerlicher Lebensformen reift. Das Westberlingefühl beschreibt Luise, das Alter Ego von Bettina Munk, an einer Stelle so: „Weit weg von Westdeutschland eingeschlossen in einem Ring aus Beton – ich konnte mir nichts Besseres vorstellen. Das geteilte Berlin war in der Phantasie nicht zu übertreffen.“

Bude, Munk und Wieland haben diese Zeit gemeinsam in verschiedenen besetzten Häusern verbracht, sie erzählen vom Band ihrer Freundschaft, von Konflikten untereinander, von Naziüberfällen und von ihrer persönlichen und politischen Entwicklung. Sie alle waren damals in ihren Zwanzigern, für alle schien mit dem Fall der Mauer die Phase des freien Experimentierens und Ausprobierens an ein Ende gekommen zu sein und etwas Neues zu beginnen. Zwar hat das Autor:innentrio die Romanform gewählt, die Handlung basiert aber auf Erlebtem: „Die Fiktion ist wahr, und die Fakten stimmen“, schreiben sie im gemeinsamen Vorwort. Das Geschehen wird aus drei Perspektiven geschildert: Es gibt eine „Wir“-Erzählperspektive (die der Stimme des Chors aus dem Drama gleichkommt) und die personalen Erzählerstimmen von Thomas und Luise.

Die einschneidenden Ereignisse im Westberlin jener Dekade geben dem/r Leser:in Orientierung: die Räumung von acht besetzten Häusern unter Innensenator Heinrich Lummer am 22. September 1981, bei der auch Klaus-Jürgen Rattay stirbt. Der Reagan-Besuch und die Straßenschlachten im Juni 1982. Der 1. Mai 1987, als Berlin brennt. Auch das Weltgeschehen hält Einzug in Kreuzberg, durch Aids wird das freigiebige und promiskuitive Sexleben der Protagonist:innen von Sorgen begleitet; eine Mitbesetzerin stirbt an der Seuche. Und nach dem GAU in Tschernobyl im April 1986 tanzen Menschen in Kreuzberg im radioaktiven Regen dem Untergang entgegen.

Aber diese Ereignisse geleiten einen eher durch die Handlung hindurch, sie sind nicht zentral. „Aufprall“ funktioniert eher wie ein Bildungsroman; je weiter die Handlung fortschreitet, desto mehr erzählt er die intellektuelle Biografien von Thomas und Luise. Der eine sucht in philosophischen und soziologischen Zirkeln seine Bestimmung. Er liest die französischen Poststrukturalisten, hält sich im Umfeld des Merve Verlags auf, sein Ziel ist es, einmal ein Bändchen bei Suhrkamp zu veröffentlichen. Die andere ist Künstlerin, Bohemien, Edelpunk. Sie liebt den Auftritt, hat etwas von einer Szene-Diva, läuft gern im „Schlampenchic“ und „Kreuzbergchic“ herum. Sie sucht nach einem künstlerischen Zuhause, das sie schließlich Ende der 80er in New York findet.

Dabei ist natürlich auch Westberlin zu dieser Zeit Anziehungspunkt aller Kreativer und Suchender. Wenn man sich abends im „Dschungel“, „Andere[n] Ufer“ oder „Ex’n'Pop“ trifft, sind sie alle Stars: „Jeder von uns wollte ein Buch schreiben, einen Film drehen, ein Theaterstück inszenieren, ein Bild malen, einen Leitartikel hinhauen, eine Band gründen, eine Galerie betreiben, eine Bar aufmachen, ein Designstudio eröffnen, eine Performance aufführen, einen Bau entwerfen oder eine Bewegung in Gang setzen“, heißt es an einer Stelle.

Porträt einer Generation, die mit Gewinn an die Kraft des Kollektivs geglaubt hat

Auch die Irrtümer vieler Linker lassen sich gut nachvollziehen, in der Besetzerszene gehören ein mindestens latenter, mitunter offener Antisemitismus und ein fast pathologischer Antiamerikanismus dazu. Bemerkenswert ist in „Aufprall“ etwa die Geschichte des ersten Hauses, das die Protagonisten besetzen. Nachdem sie erfahren, dass das Haus einen jüdischen Besitzer hat, nehmen die einen Kontakt zu dem Besitzer auf, während die anderen sagen, Spekulant sei Spekulant, und mit antisemitischen Ressentiments um sich werfen.

Das eigentliche Zentrum des Romans wäre bei alldem aber noch gar nicht benannt: Alles kreist um den tragischen Unfalltod von Mitbesetzerin Soraya; sie stirbt bei einer gemeinsamen Reise nach Prag 1982 – Thomas und Luise sitzen im selben Auto, Letztere kommt mit Verletzungen davon. Fortan ist da eine Leerstelle in ihrem Leben, sowohl Thomas als auch Luise haben ein tiefes, ein inniges Verhältnis zu Soraya, die immer irgendwie Glamour ausgestrahlt hatte. Für Luise hinterlässt ihr Tod einen „ziehenden Schmerz“, ein „zugiges Loch“: „Die Alltagssoyara, die praktische Soraya, die mutige Soraya, die Kopfwehsoraya, die Motorradsoraya, die schnell sprechende Soraya, die radikale Soraya, die lachende Soraya, die müde Soraya“, sie fehlt ihr sehr.

„Aufprall“ ist somit mehr als ein Denkmal für eine nicht mehr existente Stadt, in der alles und nichts möglich war. Es ist auch ein Denkmal für die reale Person hinter der Figur Soraya. Und ein Porträt einer Generation, die an die Kraft des Kollektivs geglaubt hat und die bis heute von diesen Erfahrungen profitiert.

Heinz Bude, Bettina Munk, Karin Wieland: „Aufprall“. Hanser Berlin, Berlin 2020, 384 Seiten, 24 Euro

Lesung: 18. Oktober, 17 Uhr, Schaubühne, Kurfürstendamm 153

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