Die Wahrheit: Heimliche Abstinenz

In unseren Breitengraden ist das Trinken üblich. Dabei könnte es doch sinnlosere und zugleich bezauberndere Drogen geben als Flüssigstoffe.

Immer wenn meine Mutter ausnahmsweise mal einen Schluck – also im wörtlichen Sinne: einen Mund voll – Alkohol trank, sagte sie: „O, das steigt mir aber in den Kopf!“ Dann wurde sie rot, als sei ihr ein Untenrumwitz rausgerutscht – und war augenblicklich blau. Für mehrere Stunden. Zumindest dachte sie das. Vielleicht war sie es auch wirklich. Möglicherweise fehlte ihr aufgrund einer bisher unbekannten oberhessischen Genmutation ein Alkohol-Abbau-Enzym. So wie angeblich fünfzig Prozent der Menschen aus dem pazifischen Raum. Deswegen trank sie so gut wie nichts.

Ich trinke gelegentlich. Aus dem gleichen Grund, aus dem ich Hosen trage. Weil es üblich ist. Wäre etwas anderes üblich, trüge ich Röcke und rauchte Opium. Meistens lasse ich es aber. Nicht das mit den Hosen, sondern das mit dem Alkohol. Beziehungsweise: Ich vergesse es.

Wenn ich nicht hin und wieder ausginge und andere Menschen beim Sichzuballern beobachtete, käme ich überhaupt nicht auf den Gedanken, mir selbst einen reinzudrehen. Während des Lockdowns haben mich nur Filmfiguren daran erinnert, dass es diese Option gibt. Und daran, dass ich noch Whiskey im Schrank hatte. Irgendwann – Thomas Shelby von den „Peaky Blinders“ genehmigte sich mal wieder einen Drink –, goss ich mir auch einen ein, kippte ihn hinunter und dachte, vor dem Fernseher stehend, mit dem Glas in der Hand: Ja, kann man machen. Oder auch lassen. Wobei mir die Praxis des Synchrontrinkens mit Filmcharakteren, wie sie René Pollesch in einem seiner frühen Stücke beschreibt, durchaus gefällt. Aber nur wegen der Fiktion-Realitäts-Vermischung.

Eigentlich würde ich mit meiner Haltung zum Trinken besser in den Kulturkreis passen, in dem ich geboren wurde, als in den, in dem ich aufwuchs. In vielen Teilen des Orients muss man ja inzwischen bestimmte Orte aufsuchen, um Alkohol zu konsumieren – Hotelbars oder Nachtklubs. Oder man muss privat und heimlich trinken. Bei uns hingegen gibt es kaum eine Gelegenheit, bei der man keine Flüssigdrogen aufgedrängt bekommt, und wenn man nicht ständig doofe Fragen beantworten will, sollte man lieber so tun, als ob – und dann heimlich nichttrinken.

Alkohol war mir schon immer zu ergebnis- und wirkungsorientiert. Wie die meisten anderen Substanzen, die einen richtigen Rausch erzeugen. Ich pflegte auch selten Umgang mit Intensivtrinkern. So saßen mein Ex-Mitbewohner und Immer-noch-Kumpel Matthias Günther und ich – statt uns gemeinsam zu besaufen – lieber stundenlang an unserem Küchentisch und bliesen uns gegenseitig Marlboro-Qualm ins Gesicht. Das hatte eine ganz eigene Schönheit.

Ohne die gesundheitlichen Folgen wäre Rauchen, insbesondere das gemeinsame, die bezauberndste und absurdeste Form des Drogenkonsums – und eine wunderbare Metapher für so vieles: kein Rausch, kein Sinn, nur neblige Semitransparenz und verwehende Zeit …

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kari

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