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: Der Traum ist aus

Die US-Demokraten haben früher den amerikanischen Aufstiegsmythos in die Wirklichkeit übersetzt. Das entpuppt sich immer mehr als Illusion

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Bettina Gaus Jahrgang 1956, ist politische Korrespondentin der taz. Von 1996 bis 1999 leitete sie das Parlamentsbüro der Zeitung, vorher war sie sechs Jahre lang deren Korrespondentin für Ost- und Zentralafrika mit Sitz in Nairobi.

Kaum je waren sich so viele Deutsche in politischer Hinsicht so einig wie in ihrer Ablehnung von Donald Trump. Entgeistert nehmen sie zur Kenntnis, dass der Ausgang der kommenden Wahlen in den USA offen ist, obwohl der republikanische Präsident dreist lügt und die Spaltung der Gesellschaft befördert. Wie kann es sein, dass der Kern seiner Anhängerschaft – immerhin rund 40 Prozent der Wahlberechtigten – unbeirrt in Treue zu ihm steht? Seine Gegnerinnen und Gegner, also die Demokraten, müssen ziemlich viel falsch gemacht haben. Aber was genau?

Die einfache Antwort lautet, dass sich in den vergangenen Jahren eben beide Parteien radikalisiert hätten. Das habe die Lagerbildung befördert. Diese Erklärung ist falsch: Die Ablehnung von Rassismus und Faschismus ist keine Radikalisierung. Vielmehr war das stets Grundkonsens der westlichen Demokratien, zumindest als Lippenbekenntnis. Jedenfalls vor Trump.

Dasselbe gilt übrigens für den Versuch, wenigstens ein Minimum an sozialer Absicherung für alle zu schaffen. Mit dem Wunsch nach Einführung des Sozialismus hat das nichts zu tun, wie fantasievoll die Wahlkampfspots des Trump-Lagers auch gestaltet sein mögen, die genau das dem demokratischen Präsidentschaftskandidaten Joe Biden vorwerfen.

Die Legende von der Radikalisierung beider Lager ist von US-Republikanern verfasst worden, die damit ihren eigenen Abschied von demokratischen Grundsätzen rechtfertigen wollen. Die Wirklichkeit ist komplizierter: In einem Zweiparteiensystem kämpfen alle darum, auch an den Rändern so viele Leute wie irgend möglich an die Wahlurnen zu bringen. Linke und liberale Parteien haben in dieser Hinsicht stets, nicht nur in den USA, mit einem besonderen Problem zu kämpfen: Ihre Wählerschaft wünscht sich ein überzeugendes Gesamtkonzept, das nach einem Wahlsieg bis ins Detail umgesetzt wird. Enttäuschungen sind unvermeidlich.

Das gilt umso mehr, wenn die eigenen Anhänger aus sehr unterschiedlichen Milieus stammen. Die US-Demokraten müssen sich darum bemühen, irgendeinen gemeinsamen Nenner zu finden, mit dem sich eine linke Akademikerin aus San Francisco ebenso identifizieren kann wie ein afroamerikanischer Arbeitsloser aus Detroit und ein älterer weißer Fabrikarbeiter aus Massachusetts. Das ist eine fast unlösbare Aufgabe, was dazu führt, dass regelmäßig Teile des demokratischen Lagers nicht bereit sind, den jeweiligen Kandidaten ihrer Partei zu unterstützen. Prinzipientreue geht vor Siegeswille.

Nun ist die konservative Gegenseite genau so zersplittert. Amerikanische Evangelikale haben mit Neoliberalen wenig gemein, auch wenn beide Gruppen mehrheitlich die Republikaner wählen. Aber die setzen erfolgreich auf individuelle Wünsche. Traditionell ist für viele republikanische Wählerinnen und Wähler der Kurs bei ihrem jeweiligen Lieblingsthema – sei es nun Abtreibung, Einwanderung oder Steuerpolitik – entscheidend, und dafür sind sie bereit, manches andere in Kauf zu nehmen, was sie eigentlich nicht unbedingt teilen.

Das ist Pech für die Demokraten, aber dafür können sie nichts. Andere ihrer Probleme sind jedoch hausgemacht. In besonderem Maße werden sie mit dem weithin verachteten „Establishment“ in der Hauptstadt Washington gleichgesetzt und sehen sich dem Vorwurf der Scheinheiligkeit ausgesetzt. Mit gutem Grund. Das Großkapital hat bei der vergangenen Präsidentschaftswahl von 2016 Hillary Clinton unterstützt, die Millionen US-Dollar mit Reden an der Wall Street und vor anderen finanzkräftigen Gastgebern verdiente. Wer das tut und sich zugleich als Retterin der Entrechteten gibt, hat ein Glaubwürdigkeitsproblem. Da ist offene, unverfälschte Gier, wie sie Donald Trump zeigt, noch sympathischer.

Hinzu kommt, dass das Prinzip der Superdelegierten mit besonderen Rechten auf demokratischen Parteitagen bei Außenseitern das Gefühl erweckt, gegen die Parteispitze ohnehin keine Chance zu haben. Zu Recht. Die Demokraten haben sich 2018 im Hinblick auf diese Regelung für ein Reförmchen entschieden. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob das für die Basis von Parteilinken wie Bernie Sanders und Elizabeth Warren genügt, um für Joe Biden zu stimmen. Der wirkt weder gierig noch scheinheilig. Nur farblos. Das mag für einen Sieg reichen angesichts eines Gegners wie Donald Trump. Vielleicht. Aber es gibt eben viele Gründe dafür, dass der Ausgang der Wahl offen ist.

Joe Biden wirkt weder gierig noch scheinheilig, nur farblos. Das mag für einen Sieg gegen Trump reichen – vielleicht

Ein weiterer: Das Ziel der Demokraten, soziale Ungerechtigkeiten mit dem US-Mythos vom „amerikanischen Traum“ in Einklang zu bringen, ist immer schwerer zu erreichen. Das gilt gerade in Zeiten einer Wirtschaftskrise. Die Vorstellung, bei genügend persönlichem Einsatz könnten alle vom „Tellerwäscher zum Millionär“ werden, gehört zum Selbstverständnis der Vereinigten Staaten. Davon wollen sich auch die unterprivilegierten Schichten ungern verabschieden – wer will schon Träume aufgeben? –, zugleich aber erleben gerade sie, dass dieses Versprechen eine Illusion ist.

Für die Demokraten entsteht daraus ein Dilemma. Jeder Einsatz für flächendeckende, soziale Maßnahmen – die ja auch Geld kosten – beinhaltet das schweigende Eingeständnis, dass der „amerikanische Traum“ ausgeträumt ist. Und um die Ecke lauert der Vorwurf des fehlenden Patriotismus. Das kann vor allem wegen des Wahlsystems in den USA – der Präsident wird indirekt über Wahlmänner gewählt, die der Sieger im jeweiligen Bundesstaat komplett bekommt – gefährlich werden: Was Schwarzen in den Südstaaten gefallen mag, muss linken Weißen im Mittleren Westen keineswegs gefallen. Für einen Sieg gebraucht werden aber beide Gruppen. Man möchte derzeit nicht verantwortlich sein für den Wahlkampf von Joe Biden.