Wie viel Staat ist gut?

In Peking hat die Führung Paranoia vor der zweiten Welle, in Moskau waltet das Laisser-Faire. Zwei Beispiele für den Umgang mit dem Schulstart

Mit Drill und Maske: Erstklässler in der Pekinger Taipinglu-Grundschule am ersten Schultag am Samstag Foto: Foto:Ren Chao/Xinhua/imago

Vor, während, nach der Schule Fieber messen

In Shanghai oder Shenzhen stehen moderne Wärmebildkameras vor den Schulen

Aus Peking Fabian Kretschmer

Einst bildete Wuhan das Epizentrum des Corona-Ausbruchs. Diese Woche schickt die Hauptstadt der zentralchinesischen Provinz Hubei seine 1,4 Millionen ­Schüler wieder in den Unterricht – nach mehr als einem halben Jahr Online-Lernens. Die letzte Region der Volksrepublik kehrt damit zum regulären Schulalltag zurück.

Natürlich haben sich die Behörden mit strikten Notfallplänen für alle Eventualitäten vorbereitet: Die Schülerinnen und Schüler sollen demnach auch auf ihrem Heimweg Masken tragen und nach Möglichkeit U-Bahnen und Busse vermeiden. Das Lehrpersonal muss zudem einen täglichen Gesundheitsbericht an die Behörden vorlegen. Und wenn es zu einzelnen Infektionen kommen sollte, dann würde umgehend wieder auf Online-Unterricht von zu Hause umgestellt.

Der Fall Wuhan zeigt die Nervosität der Behörden in China. Während im Land von 1,4 Milliarden dieser Tage ein neues Schuljahr anfängt, soll ein Aufflammen des Virus um jeden Preis vermieden werden. Die benachbarte Sonderverwaltungszone Hongkong liefert ein warnendes Beispiel dafür, dass die Entscheidung zur Schulöffnung wohlüberlegt sein sollte.

Bereits Ende Januar wurden dort die knapp 900.000 Schüler in der Finanzmetropole nach Hause geschickt, als sich die Pandemie von Besuchern aus Festlandchina ausbreitete. Ende Mai schließlich schien die Situation so weit unter Kontrolle zu sein, dass die Schulen ihre Pforten wieder öffneten. Anfang Juli jedoch musste das Semester schließlich verfrüht beendet werden, nachdem eine weitere Coronawelle durch die ehemalige britische Kronkolonie hinein brach – wobei es überraschenderweise bis dahin keine nachgewiesenen Covidinfektionen in Hongkonger Schulen gab.

Deshalb ist man auch in Festlandchina überaus wachsam. Die Volksrepublik verfügt über den bislang wohl reichhaltigsten Erfahrungsschatz, wie man Unterricht im Zeitalter von Corona abhalten kann. Seit März gibt es nämlich bereits wieder physischen Schulalltag. Dann nämlich haben bereits einige ländliche Provinzen, die zu keinem Zeitpunkt stark von der Pandemie betroffen waren, ihre Bildungsstätten geöffnet. In einigen abgelegenen Regionen ist mittlerweile praktisch wieder alles beim Alten: Die Schüler haben während des Unterrichts sogar ihre Masken abgenommen und können den Unterricht de facto ohne Auflagen fortsetzen.

In der Hauptstadt Peking hingegen, das allein aus politischem Willen „Corona-frei“ gehalten werden soll, zeigt sich ein anderes Bild. Hier hat die Lokalregierung auch für das neue Schuljahr seit dem 29. August strenge Auflagen eingeführt: Sowohl Schüler als auch Lehrer müssen stets einen Maskenschutz tragen, nur bei Sportübungen im Freien – wenn Körperkontakt vermieden werden kann – dürfen diese abgenommen werden. Zudem gilt weiterhin ein Mindestabstand von einem Meter, der auch im Klassenzimmer durchgehalten wird. Schüler, die sich in den letzten zwei Wochen außerhalb Pekings aufgehalten haben, müssen einen Virus-Test vorweisen.

In weniger urbanen Gegenden hingegen lassen sich Abstandsregeln im strengeren Sinne kaum umsetzen. Das hat vor allem praktische Gründe: Bei durchschnittlichen Klassengrößen von über 30 Schülern und vergleichsweise kleinen Unterrichtsräumen lassen sich Abstände von mehr als einem Meter einfach nicht einhalten. Aus diesem Grund haben die meisten Lokalregierungen vor allem bei der Maskenpflicht auf strenge Vorgaben gesetzt.

Für die gesamte Volksrepublik gelten jedoch ein paar grundlegende Maßnahmen: Vom Betreten der Schule bis hin zur letzten Stunde wird jedem Schüler mehrmals die Körpertemperatur gemessen. In den urbanen Städten wie Shanghai oder Shenzhen stehen dafür oftmals moderne Wärmebildkameras vor den Schulgebäuden bereit. Ansonsten werden klassische Fieberthermometer oder Handscanner benutzt. Nach dem Unterricht müssen die Eltern ebenfalls den Thermometer-Job in die eigene Hand nehmen – und vorm Schlafengehen und nach dem Aufstehen die Temperatur ihrer Kinder in einer Chat-Gruppe durchgeben.

Als am Montag die Parteizeitung der KP-Führung, People’s Daily, auf ihrem Social-Media-Account ein Video über das neue Schuljahr veröffentlichte, hagelte es von einigen Nutzern auch negative Kommentare. Viele Schüler berichten dort, dass sie ihre Internate über das gesamte Semester über nicht verlassen dürften. So schrieb ein User, ohne konkreter zu werden: „Ich wollte sehr gerne wieder zurück in die Schule gehen, aber da wusste ich noch nicht, dass ich in der Schule feststecke.“

Lernen mit animierten Elefanten

Wie eine Schule in Südindien Unterricht mit 3-D-Animationen macht

Aus Mumbai Natalie Mayroth

In dem leeren Klassenzimmer ploppt plötzlich eine 3-D-Animation eines Coronavirus neben Lehrerin Sindhu auf. Mit freundlicher Stimme erklärt sie, was es damit auf sich hat, und geht zum Hauptthema der Stunde über: Elefanten, darunter ein großer grauer Dickhäuter, der auf der Stelle läuft.

Das Experiment des Grundschullehrers Shyam Vengalloor, das Ende Juni auf Youtube erschien, sorgte schnell für Aufmerksamkeit. Seit Ende März sind die Schulen in Indien geschlossen. Viele Erzieher und Eltern suchen nach Wegen, die Kinder online zu erreichen. „Die Schülerinnen und Schüler freuen sich, wenn sie Tiere sehen“, sagt der 26-jährige Sozialkundelehrer, der an der öffentlichen Aemaup-Schule im südindischen Kerala arbeitet. Elefanten gelten in Indien als ganz besondere Tiere. In Kerala sind sie auf alten königlichen Wappen abgebildet, Teil von lokalen Legenden und manchen religiösen Zeremonien.

„Mit dem Elefantenvideo konnte ich die Kollegen von meiner Idee überzeugen und wir haben bisher mehr als zehn Videos gedreht“, sagt Vengalloor, der erst seit Kurzem als Lehrer arbeitet. Studiert hat er Luft- und Raumfahrttechnik, daher rührt seine Affinität für Simulationen. Angeregt hatten ihn 3-D-Effekte, die er in indischen Filmen gesehen hat. Doch Produktionen in einem Studio sind teuer. Also filmte er mit dem Smartphone im Klassenzimmer. „Dafür muss man nicht programmieren können“, sagt er.

In den Clips erzählen seine Kolleginnen vor der Kamera zu Themen wie das Sonnensystem bis hin zu Tierkunde. In einem weiteren Video geht es um Autos und Flugzeuge, es gibt Arabischunterricht mitsamt einer virtuellen Stadtbesichtigung von Delhi oder Mathematikunterricht, bei der eine leuchtende Tafel präsentiert wird. Zu sehen sind die Clips auf dem Youtube-Kanal der Schule, geteilt werden sie über eine Whatsapp-Gruppe.

Zwar gilt Kerala als einer der progressiveren Bundesstaaten, doch auch hier hat nicht jedes Kind im Schulalter ein Smartphone oder Zugang dazu. „Wir haben deshalb angefangen, alte Telefone zu sammeln, sie zu reparieren und an die Schüler abzugeben“, sagt Vengalloor.

Von außen habe Vengalloor bisher nur wenig Unterstützung für seine Initiative erhalten, auch wenn es viel Lob gegeben habe. Schulen und LehrerInnen aus ganz Kerala haben sich bei ihm gemeldet und nach Rat gesucht. Vengalloor gibt mittlerweile Seminare, wie man Anima­tionen in Schulvideos einsetzen kann, auch wenn das für ihn den Unterricht mit den Kindern im Klassenzimmer nicht ganz ersetzen kann.

Schule oder nicht: Maria hat keine Ahnung

„Wir warten. Auf die Schule genauso wie auf den Impfstoff“

Maria, Mutter zweier Kinder

Aus Moskau Inna Hartwich

„Es wäre eine Tragödie für meine Tochter, wenn sie nicht wieder in die Schule gehen könnte“, sagt Maria. Die Moskauerin, die ihren Nachnamen nicht veröffentlicht sehen möchte, hat in den vergangenen Monaten das erlebt, was so viele Familien quer durch die Welt durchmachen mussten: wenn plötzlich die Schulen geschlossen sind und die Büros ihre Angestellten auffordern, von zu Hause aus zu arbeiten, wenn das Internet nicht funktioniert und alle Familienmitglieder gleichzeitig an einer Zoom-Konferenz teilnehmen sollen. Sie hat erlebt, wie gut die Digitalisierung im Klassenzimmer mittlerweile manchmal klappt und wie schlecht so manche Lehrer*innen ihren Schüler*innen den Stoff zuweilen vermitteln. Corona-Alltag eben. Samt ständigen Fragen: Wann wird’s wieder „normal“? Und was ist „normal“ überhaupt?

Nun dürfte Marias Tochter, 16 und ganz wild aufs Lernen, tatsächlich wieder in ihren Klassenraum im Norden Moskaus zurückkehren. Am 1. September startet russlandweit der reguläre Schulunterricht. Eigentlich. Denn das Bildungsministerium legt zwar die Richtlinien für die Rückkehr fest, wie diese aber umgesetzt werden, entscheidet die jeweilige Schule. So soll in der Region Tscheljabinsk am Ural möglichst viel draußen unterrichtet werden, in der Region Pskow, im Nordwesten, müssen die Kinder erst einmal einen Eingangstest über das im Fernunterricht Gelernte bestehen.

Auch in Moskau, dem Corona-Hotspot des Landes mit immer noch täglich knapp 700 Fällen an Neuinfizierten, öffnen die Schulen. Der Moskauer Bürgermeister Sergei Sobjanin gab vor einigen Tagen vor, wie das zu geschehen habe: mit einem Schichtbetrieb, täglicher Desinfektion und täglich mehrmaligem Lüften der Klassenräume. Die Lehrer*innen sollen nur mit einem negativen Covid-Test unterrichten, alle, die eine Schule betreten, sollen auf Fieber getestet werden. Masken und Desinfektionsmittel sollen bereitstehen. Nur die traditionellen 1.-September-Feiern mit Aufführungen auf dem Schulhof in feierlicher Uniform, samt Blumen für die Lehrerin, entfallen – wie überall im Land.

Wie diese geforderten „Anti-Covid-Maßnahmen“ umgesetzt werden, entscheidet auch in der Hauptstadt jeweils die Schulleitung. Für Maria und ihren Mann Nikolai ist das, wie für so viele Eltern, ein Problem. „Wir wissen immer noch nichts, nicht, ob der Unterricht startet, nicht, wann unsere beiden Kinder in der Schule zu erscheinen haben, nicht, ob sie Maske tragen sollen oder ein Teil des Unterrichts doch noch online stattfindet.“ Keine Mail des Direktors, keine Planungssicherheit.

Maria, die Bücher über russische Prominente schreibt, würde beide Modelle bevorzugen: Präsenzunterricht und Schule im Online-Format – „weil meine Kinder so unterschiedlich mit Stoffvermittlung umgehen“. Für ihren elfjährigen Sohn, der sich mit Stillsitzen im Klassenraum schwertue und nicht gern etwas an der Tafel erkläre, könne sie sich weiterhin „Schule per Zoom“ vorstellen, wie sie sagt. Das lasse ihn entspannter ans Thema Schule herangehen. Die 16-jährige Tochter aber brauche ihre Clique, brauche den unmittelbaren Kontakt zum Lehrer und zur Lehrerin. „Ihr fiel der Fernunterricht unfassbar schwer.“

Kaum war in Moskau Privatunterricht wieder möglich, schrieb die Teenagerin sich für zusätzliche Französischstunden ein. Hauptsache endlich wieder „normal lernen“, erklärte sie ihren verblüfften Eltern. Sorgen um eine Infektion macht sich die Familie nicht. Sorgen um eine Impfung dagegen schon. Russland hat mit Sputnik V den weltweit ersten Corona-Impfstoff registrieren lassen, Ab Anfang September soll es den Impfstoff in den Moskauer Kliniken geben. „Ich fürchte, der Schaden durch die Impfung könnte größer sein als durch das Virus“, sagt die 45-jährige Maria. „Wir warten. Auf die Schule genauso wie auf einen Impfstoff – aus ausländischer Produktion.“