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Die Tickets sind schon weg

Eine Charité-Studie macht Hoffnung, dass der Abstand zwischen Orchestermusikern verringert werden kann. Doch die Durchführung von Konzerten bleibt weiter schwierig

Konzerte vor vollem Haus – hier im Konzerthaus Berlin mit Chefdirigent Christoph Eschenbach – das kann noch dauern Foto: Marco Borggreve

Von Ansgar Warner

Daniel Barenboim ist mit Ende siebzig wieder dort angekommen, wo er einst angefangen hat: „Zu Beginn kamen bei mir auch nicht so viele Besucher“, hat der Pianist und Dirigent gerade im Scherz erklärt. Eigentlich kommen derzeit überhaupt keine, denn momentan spielt oder dirigiert Barenboim in der Regel gestreamte Livekonzerte, ob in Wien oder in Berlin. Auch wenn er das als „geistlos“ empfindet. Damit steht er zweifellos nicht allein da.

Der Konzertsommer 2020 war pandemiebedingt überwiegend virtuell, doch immer mehr Veranstalter, Orchestermusiker und auch Musikfans scharren mit den Füßen, um Events vor Ort erleben zu können. Weil in Deutschland erst ab September wieder Großveranstaltungen unter Sicherheitsauflagen möglich sind, blickten im August alle gespannt auf die Salzburger Festspiele. Die waren als einziges Spektakel weit und breit nicht abgesagt worden.

Was geht, wenn eigentlich gar nichts geht? Ein deutlich abgespecktes Programm: weniger Veranstaltungen, weniger Veranstaltungsorte, ein deutlich geringeres Kartenangebot (76.000 statt 240.000 Tickets), und ohnehin nur personalisierte Billetts, um eine Rückverfolgung zu ermöglichen. Federn lassen mussten auch die Aufführungen selbst. Auf große Chöre wurde verzichtet, die Schere am Libretto angesetzt. So kürzte Regisseur Christof Loy Mozarts Oper „Cosí fan tutte“ um 45 Minuten, sodass man sie ohne Pause im Großen Festspielhaus durchspielen konnte, dessen 2.200 Sitzplätze nicht mal halbwegs besetzt waren. Denn mehr als 1.000 Personen in einem Raum, das geht selbst in der Alpenrepublik nicht.

Erst ein Blick hinter die Kulissen zeigt, was für einen irrsinnigen Aufwand die Macher in der Mozartstadt betreiben mussten – neben den üblichen Covid-19-Tests wurden alle Beteiligten, vom Bühnenarbeiter über die Künstler bis zu den Organisatoren, in drei Gruppen (rot, orange, gelb) eingeteilt, je nachdem ob während der Arbeit Sicherheitsabstände eingehalten werden konnten und ob es Kontakte zu den anderen Gruppen gab. Die große Mehrheit der Zuschauer saß sicher zu Hause vor dem Screen: Insgesamt hatten in der dritten Augustwoche mehr als 2,3 Millionen Menschen die Festspiele via Arte, ORF, 3sat oder Bayerischer Rundfunk verfolgt.

Großen Anteil nahm das Bildschirmpublikum in diesem Jahr aber auch an Events wie etwa dem Schleswig-Holstein Musikfestival (Motto: „Sommer der Möglichkeiten“) oder dem Moritzburg-Festival in Schloss Moritzburg bei Dresden. Wie begrenzt die Zahl der Teilnehmer vor Ort war – soweit es überhaupt welche gab –, zeigt das Beispiel Stuttgart. Dort gastierte das Molyvos-Festival, das normalerweise auf der griechischen Insel Lesbos stattfindet: Im Audiostream (abrufbar unter ardradiofestival.de) ist am Ende nur spärliches Klatschen einiger weniger Gäste zu hören. Damit der Regionalaspekt überhaupt noch spürbar war, kam hingegen in Schleswig-Holstein gar ein Trecker zum Einsatz, auf dem Mini-Ensembles vom Anhänger herab in Dörfern und Städtchen das eine oder andere Ständchen gaben.

Ganz so handverlesen darf der Konzertherbst natürlich nicht werden. Die Frage ist schließlich: Lässt sich das finanziell durchhalten? Die Berliner Philharmoniker etwa haben für die neue Spielzeit bis zunächst Ende Oktober erst mal nur maximal 25 Prozent der rund 2.200 Sitzplätze im Angebot, jeder zweite Platz bleibt unbesetzt, jede zweite Reihe ganz leer. Die Spielzeit wurde auf 90 Minuten ohne Pause begrenzt, auch die Zahl der Musiker auf dem Podium ist wegen der Abstandsregelungen begrenzt.

Das macht sich auch im Programm bemerkbar: Mahlers Sinfonien oder Bruckners, Strawinsky vielleicht? Sorry, geht nicht, zu lang, zu aufwendig orchestriert. Stattdessen vergleichsweise leichtere Kost wie Beethovens „Pastorale“, drei Sätze aus Bergs „Lyrischer Suite für Streichquartett“ oder ­Bartóks Streicher-Divertimento. Solche Konzerte, bei denen Orchester und Publikum zusammengestrichen werden, mache die Philharmoniker vorerst zu einer Art Kammerorchester, ätzte kürzlich schon ein Lokalblatt.

Vielleicht geht aber doch mehr – eine von diversen Orchestern in Auftrag gegebene Charité-Studie wurde gerade aktualisiert, die Abstandsregelungen ließen sich demnach lockern. Empfohlen werden nun 1,0 Meter bei Streichern (vorher 1,5 Meter) und 1,5 Meter bei Bläsern (vorher 2 Meter). Eine Plexiglasscheibe als Spuckschutz kann offenbar bei den Bläsern komplett entfallen.

Geändert hat sich auch die Einschätzung des Publikums – wer in ein Klassikkonzert gehe, sei „diszipliniert und hat ein aufgeklärtes Verständnis für gesundheitliche Zusammenhänge“, sagt Stefan Willich, Leiter der Studie und Direktor des Instituts für Sozialmedizin und Epidemiologie an der Charité. Mit anderen Worten: Wenn die Zuhörer auch während des Konzerts Maske tragen, ähnlich wie beim Einkaufen oder im öffentlichen Nahverkehr, sei der Konzertbetrieb auch in vollen Sälen machbar.

Jeder zweite Platz bleibt unbesetzt, jede zweite Reihe ganz leer

Doch das bleibt vorerst wohl ein Sandkastenspiel, vor allem bei steigenden Infektionszahlen – der Festivalherbst findet quer durch die Republik nach dem Salzburg-Prinzip statt: Risikoreduktion durch Angebotsreduktion. So werden etwa beim Usedomer Musikfestival vom 9. September bis 10. Oktober, bei den Nachholveranstaltungen der Musica Bayreuth ab September oder bei den Händel-Festspielen in Halle vom 26. bis 29. November die meisten Zuschauer die Events im Live­stream erleben. Und auch das dezentrale Konzept der Niedersächsischen Musiktage vom 4. bis 27. 9. dürfte das grundsätzliche Problem nicht beheben: Die mobilen Bühnen der Niedersachsen sind zwar quer durch das ganze Bundesland unterwegs, vor Ort ist die Zuschauerzahl jedoch stark limitiert.

Was im Einzelnen geht, bleibt dabei auch im Festivalherbst von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. Ein markantes Beispiel für pandemischen Flickenteppich ist die Hauptstadt. Dort werden am 6. September bei der „Staatsoper für alle“ unter der Leitung von Daniel Barenboim Beethovens Neunte, Violinromanzen und die „Egmont“-Ouvertüre umsonst und draußen auf dem Bebelplatz aufgeführt.

Normal wären 40.000 Klappstuhlbesucher. Geplant wird diesmal mit 2.000 Besuchern. Glückliche Ticketbesitzer erhalten „Zugang zu einer Sitzinsel mit vier Plätzen“. Mit auf die Insel dürfen bis zu drei weitere Personen „gemäß der in Berlin geltenden Abstandsregelungen: Ehe- oder Lebenspartnerinnen, Haushaltsangehörige und Personen, für die ein Sorge- und Umgangsrecht besteht.“ So viel zum Thema „Ode an die Freude“.

Sonst noch was? Ach ja: „Alle Tickets bereits vergriffen.“ Also viel Spaß beim Streamen der Götterfunken.