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Schulstart ohne Verstärkung

In Spanien startet diese Woche der Unterricht. Vor allem im Corona-Hotspot Madrid hat die Regionalregierung notwendige Maßnahmen verschlafen – es fehlen Tausende Lehrkräfte

Madrider LehrerInnen stehen für einen Coronatest an Foto: Pablo Blazquez Dominguez/getty images

Aus Madrid Reiner Wandler

Am Tag vor dem Schulstart ist Sandra Valiente skeptisch: „Uns wurden neun neue Lehrer genehmigt, doch gekommen sind sie noch nicht“, sagt die Mittelstufenlehrerin an einer Stadtteilschule im Zentrum von Madrid. Seit Tagen eilt Valiente von einer Sitzung zur anderen. Es geht darum, die neuen Klassen zusammenzustellen und den Ablauf zu organisierten.

Am Dienstag und Mittwoch diese Woche starten die Klassen der Unter- und Mittelstufe, nächste Woche folgen die Schüler der Oberstufen. Nur: Die Klassen dürfen künftig maximal 20 statt bisher 25 Kinder stark sein, sollen so wenig wie möglich Kontakt mit den restlichen Schülern haben, um im Falle einer Ansteckung nicht die ganze Schule schließen zu müssen. „Selbst im Speisesaal werden wir Schichten einführen“, sagt Valiente.

Die Schule mit den rund 450 SchülerInnen hat bisher 30 Lehrkräfte, künftig sollen es 39 sein. „Doch tatsächlich sind es nur 25“, sagt Valiente. Die Neuen sind noch nicht da. Drei Kollegen waren beim Covid-Test positiv. Eine Kollegin ist schwanger, eine andere auf Fortbildung.

„Wenn bis Ende der Woche die Neuen nicht eingetroffen sind, wird es unmöglich, die ‚neue Normalität‘ umzusetzen“, warnt Valiente. Es wird wohl knapp. Denn erst am Montagabend veröffentlichte das Madrider Bildungsministerium endlich die Stellenausschreibungen.

Die Regierung der Hauptstadtregion Madrid hat eine „sichere Rückkehr an die Schulen“ versprochen, doch viele Beobachter sehen in dem Handeln des Bündnisses aus konservativer Partido Popular (PP), rechtsliberaler Ciudadanos (CS) und rechtsextremer VOX nur Chaos.

Zum Beispiel vergangene Woche, als Tausende LehrerInnen stundenlang Schlange standen, um sich auf Covid-19 testen zu lassen. Sicherheitsabstand? Fehlanzeige. Wer sich den ganzen Sommer über verantwortungsbewusst verhalten hatte, lief ausgerechnet beim Test Gefahr, sich anzustecken.

Madrid ist der spanische Covid-Hotspot. Bei rund 60.000 getesteten LehrerInnen waren 2.500 „positiv“. Wer stundenlang mit einem solchen Kollegen, mit einer solchen Kollegin zusammen war, müsste in Quarantäne. Doch dazu müsste die Kontaktverfolgung funktionieren, und das tut sie nicht.

Dennoch wurde der „Plan für die sichere Rückkehr“ erst zehn Tage vor Schulbeginn verkündet. Und das auch nur, weil die Lehrergewerkschaften mit Streik drohten, um die Öffnung der Schulen durchzusetzen.

Erst am Montag veröffentlichte das Ministerium die Stellengesuche

„Ganz offensichtlich wollte die Regionalregierung den Unterricht weiterhin online abhalten wie in den über drei Monaten des Lockdowns“, sagt Isabel Galvín, Generalsekretärin der größten Madrider Lehrergewerkschaft Frem. „Das wollen wir auf keinen Fall. Denn nur der Unterricht an der Schule selbst gewährleistet gleiche Bildungschancen für alle“, erklärt die Unidozentin.

Erst der Streikaufruf, ist sich Galvín sicher, brachte die Regionalregierung dazu, in aller Eile einen Plan für Präsenzunterricht auszuarbeiten. Doch die Umsetzung kommt nur zögerlich in Gang.

Die versprochenen 11.000 neuen Stellen für Lehrkräfte und technisches Personal waren Anfang der Woche noch nicht eingestellt, obwohl die Schule für die meisten Altersstufen diese Woche beginnt. Die neuen Lehrkräfte werden dringend gebraucht, um die Klassenstärke auf maximal 20 zu senken. Zusätzliche Reinigungskräfte sollen für Hygiene sorgen. Fieberthermometer und Desinfektionsmittel kommen bisher auch nur spärlich in den Schulen an. „Solange die versprochenen Maßnahmen nicht umgesetzt sind, werden wir den Streikaufruf aufrechterhalten“, erklärt Galvín deshalb. Statt für den ersten Schultag ist der Ausstand jetzt auf den 22. und 23. September angesetzt. Mehr Vertrauensvorschuss wollen die Gewerkschaften der Regionalregierung nicht geben.

Bildungspolitik ist in Spanien Sache der Regionen. Ausgerechnet die reichste Region, Madrid, schneidet am schlechtesten ab. Die konservative PP regiert hier seit 25 Jahren. Das Bildungssystem wurde zunehmend privatisiert. Jedes zweite Kind ist mittlerweile an einer öffentlich subventionierten Privatschule. In den letzten Jahren wurde viele Schulen gezielt an erzkatholische Organisationen vergeben.

„Die Coronakrise trifft uns deshalb so hart, weil das öffentliche Schulsystem bereits in der Krise steckte“, sagt Gewerkschaftssprecherin Galvín. Bis heute hätten die öffentlichen Schulen in Madrid rund eine Milliarde Euro pro Jahr weniger als vor den Sparmaßnahmen in der Eurokrise.

Die Statistik zeigt: Niemand in Spanien gibt so wenig für Bildung aus wie das reiche Madrid. Hier sind es nur 2,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Im spanischen Schnitt sind es 4,5 Prozent. Madrid hat mit bis zu 37 SchülerInnen die größten Klassen im Land.

Auch Marian González macht sich Sorgen. „Wir haben sechs zusätzliche Lehrer verlangt und sollen sogar sieben Ganztagsstellen und eine 1/3 Stelle“, berichtet die Direktorin eines Gymnasiums in San Sebastián de los Reyes, einem Vorort im Norden Madrids.

Im Nachbarland Frankreich hat die Schule bereits am 1. September begonnen. Auch dort ist die Zahl der Corona-Infektionen zuletzt stark angestiegen – und die Zweifel vor dem Regelunterricht sind groß Foto: Jeff Pachoud/afp

Doch nur drei Tage vor Schulbeginn hat auch sie die Neuen noch nicht begrüßen können. „Das eigentliche Chaos beginnt wohl jetzt bei der Suche nach Lehrern“, ist sich González sicher. „Bereits im vergangenen Jahr waren die Lehrkräfte in einigen Fächern sehr rar“, sagt sie. Mathe, Physik und Fremdsprachen seien davon betroffen.

Dass es auch anders geht als in der Hauptstadtregion, zeigt die Region Valencia. Die dortige Linksregierung bereitete schon im Juni und Juli das neue Schuljahr vor. Knapp 4.400 LehrerInnen wurden Anfang August angeheuert, als Eltern in Madrid noch vergeblich einen Plan forderten.

„Valencia ist leider die Ausnahme“, erklärt Paco García, spanienweiter Generalsekretär der Lehrergewerkschaft im Dachverband CCOO. Die Zentralregierung in Madrid unter dem Sozialisten Pedro Sánchez empfiehlt den Regionen Klassenstärken von 20. „Verpflichtend ist das allerdings nicht“, beschwert sich García. Alle 17 Regionen zusammen versprechen, 39.000 zusätzliche Lehrkräfte einzustellen. „Für Klassen von maximal 20 SchülerInnen wären allerdings 70.000 nötig“, hat die Gewerkschaft ausgerechnet.

Das Problem ist jedoch: Die Regionen wollen so wenig Geld wie möglich ausgeben. Insgesamt hat die Regierung Sánchez für die Regionen 2 Milliarden Euro aus den europäischen Coronahilfen für das Bildungssystem zur Verfügung gestellt. „Die Klassenstärke von 20 konsequent umzusetzen kostet jedoch mindestens 4,6 Milliarden Euro. Das wäre noch immer wesentlich weniger als die 9 Milliarden, die seit der Eurokrise dem Bildungssystem pro Jahr weniger zur Verfügung stehen“, rechnet García vor. Seine Gewerkschaft CCOO droht ähnlich wie in Madrid Streik auch in Galicien, Murcia und dem Baskenland an.

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