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Geschwärzte Akten vom Jugendamt

Der lange erwartete Bericht zu den Versäumnissen im Jugendamt Hameln-Pyrmont ist da. Die vom Innenministerium beauftragte Sonderermittlerin wirft den zuständigen Mitarbeiter:innen schwere Fehler vor. An ein strukturelles Problem glaubt sie aber nicht

Von Nadine Conti

Vier Hinweise auf eine Gefährdung des Kindeswohls und ebenso viele Hinweise auf verdächtiges Verhalten des Pflegevaters listet die Sonderermittlerin in ihrem Bericht zu den Missbrauchsfällen von Lügde auf. Keiner davon ist vorschriftsgemäß bearbeitet worden.

Christa Frenzel hat im Auftrag des niedersächsischen Innenministeriums das Handeln des Jugendamtes Hameln-Pyrmont untersucht, das dem 57-jährigen Andreas V. ein sechsjähriges Mädchen als Pflegekind überlassen hat – obwohl der Mann auf einem Campingplatz wohnte. Der mittlerweile zu einer langjährigen Haftstrafe Verurteilte steht im Zentrum eines der größten Missbrauchsskandale des Landes.

Im Nachhinein ist kaum nachvollziehbar, wie die Jugendamtsmitarbeiter:innen über diese Warnsignale hinwegsehen konnten. Im Sommer 2016 erstattete ein Vater Anzeige, weil sein Kind von übergriffigem Verhalten berichtet hatte. Er verwies auch auf das Pflegekind und darauf, dass dort weitere Kinder ein- und ausgingen. Der Kinderschutzbund Bad Pyrmont und die Polizei Blomberg informierten das Jugendamt Hameln.

Zwei Monate später äußerte eine Kinderpsychologin aus dem Kindergarten, in den das kleine Mädchen ging, Bedenken gegen Andreas V., den sie für pädophil hielt.

Weitere zwei Monate später gab eine Jobcenter-Mitarbeiterin Hinweise darauf, dass es Anzeichen von Vernachlässigung und sexuellem Missbrauch gab. Ihren Angaben nach war das Kind nicht ausreichend bekleidet. Der Pflegevater soll anzügliche Bemerkungen gemacht haben wie „Für Süßigkeiten tut die alles“ und „Mal will sie kuscheln und dann wieder nicht – Frauen sind komisch“. Das Kind soll gesagt haben, es möge den Geruch von schwitzenden Männern nicht.

Zwei Monate danach, im Januar 2017, wurde „Addi“ zum Vollzeitpflegevater. Das Kind hielt sich zu diesem Zeitpunkt schon seit Juni 2016 bei ihm auf, auf Wunsch der mit der Erziehung überforderten Mutter.

Und sie war wohl nicht die Einzige. In den Jugendamtsakten finden sich auch Hinweise, dass der Täter immer wieder Kontakt zu anderen Kindern suchte. Im Rahmen eines Hausbesuchs erzählte er freimütig selbst, dass weitere Mädchen bei ihm übernachteten, deren Mütter sich nicht ausreichend kümmerten. Er meldete sich auch auf eine Suchanzeige des Landkreises Lippe für die Betreuung von Kindern psychisch kranker Eltern. Dort hielt man ihn aber nicht für geeignet.

Betreut wurden der Pflegevater und das Kind von einer Familienhelferin, vier Stunden pro Woche. Die versuchte er allerdings bald loszuwerden. Er wolle keine weibliche Betreuungsperson, mutmaßte sie in ihrem Abschlussbericht. Er habe auch versucht, Gespräche mit dem Kind allein zu unterbinden. Das Jugendamt schickte daraufhin jemand anderen.

All dies geht aus den Akten hervor, die die Sonderermittlerin eingesehen hat. Frenzel, selbst früher als Stadträtin in Salzgitter und davor als Referatsleiterin im Sozialministerium mit solchen Themen befasst, hat großes Verständnis für Jugendamtsmitarbeiter:innen. Detailliert legt die Fachfrau dar, wie schwierig deren Aufgaben seien, wie kompliziert die Rechtslage, wie anspruchsvoll die Organisationsentwicklung.

In diesem speziellen Fall attestiert sie allerdings eine ganze Reihe handwerklicher Fehler: Die Aktenführung sei unzureichend gewesen, vorgeschriebene Bearbeitungsschritte und Beratungswege seien nicht eingehalten worden. Die Kommunikation innerhalb des Hauses habe genauso wenig gestimmt wie die Kommunikation zwischen den beteiligten Jugendämtern und den anderen Stellen wie etwa der Polizei.

Der Täter versucht, die Familienhelferin loszuwerden. Das Jugendamt schickte jemand anderen

Dem Landkreis Hameln will sie das allerdings nicht anlasten: Die Personaldecke sei dick genug gewesen, die Anforderungen klar, die Voraussetzungen für ordentliche Arbeit gegeben, sagt sie.

Persönlich zuordnen kann sie dieses Versagen allerdings auch nicht und deshalb auch keine wirklichen Aussagen über das Zustandekommen treffen. Die Akten, die man ihr überlassen hat, waren anonymisiert, alle Namen geschwärzt. So ist es nicht möglich, zu erkennen, wer hier wann, was veranlasst hat.

Ihr Zugriff auf die Akten war zudem beschränkt: In dem halben Jahr beim Landkreis hat die Sonderermittlerin nur digitale Kopien der Fallakten bekommen, die zu diesem Zeitpunkt noch bei der Staatsanwaltschaft lagen. Weitere Akten konnte sie aufgrund des Widerspruchs von Betroffenen nicht einsehen, Protokolle von Dienstbesprechungen gab es nicht, Gespräche mit den Mitarbeiter:innen selbst hat sie nicht geführt.

Ihre Schlussfolgerungen bleiben dann auch generisch. Sie listet vieles auf, was in der Fachwelt ohnehin schon diskutiert wird: Zusammenarbeit der Jugendämter verbessern, rechtliche Grundlagen harmonisieren, Qualitätsentwicklung.

Niedersachsens Sozialministerin Carola Reimann (SPD) sieht sich folglich nicht zum Handeln aufgerufen: Der Bericht belege „eine Reihe individueller Fehleinschätzungen“ als Ursache, sagte sie in einem Statement nach der Sitzung des Sozialausschusses. Die Opposition fordert nach wie vor einen Sonderausschuss im Landtag.

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