Die Widerstandskämpferin

Die Schriftstellerin Anne Weber erzählt die Geschichte einer beeindruckenden Frau in Versen. Und es funktioniert großartig: „Annette – ein Heldinnenepos“

Stoff für ein Heldinnenepos: das Leben der Annette Beaumanoir (*1923) Foto: Laurent Cousin/Laif

Von Moritz Baßler

Keine Angst, es geht mal nicht um Droste-Hülshoff, und ja – es handelt sich um ein echtes Epos, einen Erzähltext in Versen, aber auch hier: keine Angst! Doch der Reihe nach: Als Heldin besungen wird Annette (das letzte e ist stumm) Beaumanoir (*1923), die als junge Frau in der französischen Résistance und dann für die algerische Freiheitsbewegung FLN im Untergrund aktiv war, dazu Neurophysiologin und Mutter dreier Kinder; die Autorin hat sie persönlich kennengelernt, auch liegt Autobiografisches von ihr vor.

Mindestens so beeindruckend wie das Leben ihrer Figur ist jedoch Webers Gattungswahl. Es werden ja immer mal wieder Kunstformen totgesagt – Punk, Oper, Roman –, die einfach fröhlich weiterleben, aber das Versepos ist nun wirklich seit über hundert Jahren mausetot. Wird es mal hervorgekramt, dann als gelehrt-verschrobenes Kunstding von esoterischem Reiz wie Ann Cottens „Verbannt!“ (2016).

Und was macht Anne Weber? Denkt sich wohl: Wo Heldin, da Epos; wo Epos, da Vers, und tut es einfach. Aber ohne Reimzwang, festes Metrum und historischen Muff – ihre Verse lesen sich locker weg, wie mutwillig umgebrochene Prosa.

Und siehe da: Statt zu beschränken, eröffnet die tiefergehängte Form auf einmal neue ästhetische Räume! Alles lässt sich hier ganz ungekünstelt sagen, Zitate von Malraux oder Camus, Sachinformationen zur französischen Geschichte werden zwanglos einfügt, und doch macht es, so merkt man rasch, durchaus einen Unterschied, ob ein Satz in einen Vers passt oder darüber hinausgreift: „Sie glaubt nicht an Gott, aber er an sie. / Falls es ihn gibt, so hat er sie gemacht.“

Natürliche Betonungen verflüssigen sich bis zum Blankvers, um sich anschließend wieder im Prosarhythmus zu stauen wie der bretonischen Fluss mit Tidenhub in Annettes Geburtsdorf. Hie und da wird mit einem Binnenreim gespielt. Odysseus, der epische Held schlechthin, kommt auch mal vor; denn im Untergrund ist Annette ein „Niemand“ wie er. Doch solche Anspielungen kommen sympathisch zwanglos daher; der Text möchte verstanden werden.

Und ja: wo Epos, da Götter, oder zumindest ein Zug ins Höhere und Objektive – die Form verführt zu Sentenzen und hält sie gleichzeitig in Zaum. So heißt es vom bäuerlichen Vater eines algerischen Lebens- und Kampfgefährten Annettes:

„Der Vater ist ein weiser Mann, er sieht die Dinge / nicht so eng wie man sie immer sehen kann, / wenn man Muslim ist, oder Jude, oder Christ.“

Der Mann ist Muslim, die Verse verallgemeinern aber so, dass seine Beschreibung nicht mehr, wie realistisches Erzählen sonst, unsere orientalistischen Stereotype aktiviert, um sie zu bestätigen oder zu korrigieren. Nein, mit seiner Haltung ist hier zugleich auch unsere eigene herausgefordert; auch wir haben, zu einer anderen Zeit, in ganz anderen Zusammenhängen, die Wahl, was wir aus unseren Identitäten ableiten: unbedingte Forderungen an uns und andere oder eine vorsichtige Offenheit. Und so ist es auch mit dem Ethos der Widerstandskämpferin Annette: Das Epos legt es uns als allgemeine Maxime unseres Handelns nahe und – das ist das Wunderbare – hält es zugleich auf Distanz.

Eine Befreiung! Denn anders als in vielen Gegenwartsromanen verhindert das Erzählen in Versen insbesondere, dass wir in die Zwangsintimität von Annettes Subjektposition gezwungen werden, dass wir automatisch von ihr aus die Welt in Freund- und Feindliches unterteilen. An jeder Stelle bleibt diese Frau unsere Heldin, wir bewundern ihren Mut und fiebern mit ihr mit – aber wir müssen nicht gut finden, was sie tut.

Anne Webers Verse lesen sich locker weg, wie mutwillig umgebrochene Prosa

Sie rettet Juden und verstößt dabei gegen den Codex der Parti Communiste Français, deren patriarchalen Strukturen sie sich sonst aber unterwirft. Ihre FLN wirft Bomben in Straßenbahnen. „Was früher schlecht war, – lügen, / spitzeln, stehlen –, ist jetzt gut, nur weil der Zweck / ein guter ist für den mans tut.“

Doch auch mit den Zwecken ist es so eine Sache: Annettes Hilfe beim Aufbau des algerischen Gesundheitswesens trägt letztlich dazu bei, ein religiös-diktatorisches Regime zu etablieren, das bis heute nachwirkt („Wer Fortschritt wollte, hat jetzt Gleichschritt“).

Weber hat mit ihrem Heldinnenepos ein ästhetisches Verfahren gefunden, das solchen sachlichen und ethischen Komplexitäten gerecht wird, wie sie jedem Widerstand und jedem politischen Engagement (oder deren Fehlen) anhaften. Es erzeugt eine Leichtigkeit noch im Schwersten und lässt uns damit eine Freiheit, die gleichwohl verpflichtet. Es erreicht ein allgemeines Level und behält doch stets das Konkrete im Auge, bis hinein ins Privateste, von der Unterwäsche der Großmutter bis zum Liebesleben der Heldin. Und es vergisst nicht, dass ein jeder Erzähltext immer auch von der Spannung lebt, ohne dass er deshalb gleich nach dem üblichen Hollywood-Muster der Heldenreise gestrickt sein müsste.

„Annette“ ist ein weises Epos. Es sieht die Dinge nicht so eng – aber es lässt auch nichts einfach so durchgehen, weder seiner Heldin noch uns. So unwahrscheinlich das auch klingen mag: Vielleicht liegt die Zukunft unserer Gegenwarts­literatur ja im Versepos.

Anne Weber: „Annette, ein Heldinnenepos“. Matthes & Seitz, Berlin 2020, 207 Seiten, 22 Euro