: „Es hat die Menschen einfach überzeugt“
Seit der Wende rettet der Pfarrer Martin Weskott Bücher vor dem Müll. Was mit DDR-Literatur begonnen hat, umfasst heute 50.000 Werke aus ganz Deutschland
Interview Friederike Gräff
taz: Gibt es Bücher, die Sie nicht retten wollen, Herr Weskott?
Martin Weskott: Alle, die sehr trivial sind. In letzter Zeit gab es das aber nicht.
Die Bandbreite der von Ihnen geretteten Bücher ist enorm: von Goethe über Stefan Heym hin zu Sachbüchern über Hubschrauber der NVA.
Der Hubschrauber-Band hat dokumentarischen Wert. Er lag zusammen mit Ansprachen bei den Montagsdemonstrationen auf einem Band der Papieraufbereitungsanlage Thräna. Das Arrangement zusammen mit den Ansprachen bildet das ganze Spektrum des Transformationsprozesses ab.
Aber wenn es Ihnen um Dokumentation geht: Zeigt die Trivialliteratur nicht, wie sich Menschen zu einer bestimmten Zeit ablenken?
Das ist richtig. Aber Sie müssen sehen, wie groß die Kapazitäten sind, um Bücher mitzunehmen.
Heute lagern Sie die Bücher in einer alten Burganlage. War diese Dimension von Anfang an klar?
Nein, das hat sich Stück für Stück entwickelt. Seit 2008 sind wir in der ehemaligen Steinscheune des Katlenburger Ensembles.
Ist seitdem Platz keine Kategorie mehr für Sie?
Doch inzwischen schon. Wir haben jetzt über 50.000 Bücher. Der Raum muss für diejenigen, die die Bücherburg besuchen, noch überschaubar sein. Man muss sich Zeit nehmen und etwas entschleunigen.
Warum hat es Sie so umgetrieben, als Sie 1991 die Bilder der Bücher auf dem Müll in Plottenburg bei Leipzig sahen?
Es ist mir sozusagen in die Wiege gelegt worden. Dadurch, dass ich Theologe bin, habe ich viel mit Büchern zu tun. Die Bibel ist auch eine Bibliothek von Büchern.
Sie haben mehrere Fächer studiert: Theologie, Soziologie, Philosophie und Geschichte – aber nicht Literaturwissenschaft.
Durch die Lesungen der Müll-Literaten, deren Werke wir, also etwa 15 Ehrenamtliche und ich, auf dem Müll aufgelesen haben, hat man eine Schule, die fast über die Universität hinausgeht. Durch die Vorbereitung liest man die Bücher der Autoren und im Gespräch stellt man Fragen, die in einem Seminar vielleicht gar nicht zustande kommen.
Hatten Sie schon vor 1991 einen Bezug zur DDR-Literatur?
Zu den Größen wie Christa Wolf, Volker Braun und Christoph Hein schon. Wir hatten in der Kirchengemeinde schon vorher eine öffentliche Büchereiarbeit gemacht, die eigentlich Aufgabe einer Kommune ist. Im Rahmen dieser Arbeit, die von vielen Ehrenamtlichen mitgestaltet wurde, haben wir auch Lesungen veranstaltet und dort hat auch ein bestimmter Teil der DDR-Literatur eine Rolle gespielt.
Sie hatten auch durch Ihren Großvater, der in der DDR lebte, ein Verhältnis zu diesem Staat.
Mein Großvater ist 1966 leider ziemlich früh gestorben, aber ich habe seine Arbeit als Pastor noch sehr lebendig bei Urlauben erleben können, ich habe ihn da begleitet.
Haben Sie da auch schon die nicht immer einfache Rolle von Kirche in der DDR wahrgenommen?
Natürlich – durch meinen Großvater selbst, der uns gerne in Westdeutschland besucht hätte. Das war bei Frauen erst ab 60 und bei Männern ab 65 Jahren möglich.
Und die Einschränkungen als Pastor?
Er hatte Einschränkungen wie jeder Pfarrer und jede Pfarrerin dort, so wurden etwa seine Predigten beobachtet. Aber er hat mit großer Energie die frohe Botschaft verkündet und das getan, was möglich war. Und er hatte zwei Gemeinden, die ihm da viel geholfen haben, da gab es sicher auch andere.
68, war bis 2017 Pfarrer in der niedersächsischen Gemeinde Katlenburg. 1991 initiierte er eine Rettungsaktion für Bücher, die bei Leipzig auf eine Müllkippe gebracht worden waren. Inzwischen umfasst die Aktion unter dem Namen „Weitergeben statt Wegwerfen“ aussortierte Bücher aus ganz Deutschland, die in der Bücherburg in Katlenburg gegen Spende für „Brot für die Welt“ abgegeben werden.
Die DDR-Literatur hatte ja für den westlichen Blick auch die Facette der staatlichen Zensur. Warum sammeln Sie da nicht selektiv nur die nicht-konformen Stimmen?
Diese Wirklichkeit gehört zur DDR-Wirklichkeit dazu. Was mich vor allem interessiert, ist, inwieweit in der Literatur der DDR die Brüche der Gesellschaft sichtbar werden. Da gibt es nach meiner Meinung noch sehr viel zu entdecken: Ich arbeite an einer anderen Literaturgeschichte der DDR.
Was soll die zu Tage fördern?
Ich habe den Eindruck, dass in der Literaturwissenschaft viel – und durchaus mit einigem Recht zu der Zeit – Gewicht gelegt wurde auf diejenigen, die auch im Westen abgedruckt worden sind. Aber dass es eben auch viele Werke gegeben hat, in denen bestimmte Tabuthemen zur Sprache gekommen sind, was in Westdeutschland nicht wahrgenommen worden ist. Und was über den deutsch-deutschen Literaturstreit ...
... dem Streit um die politische Rolle von DDR-SchrifstellerInnen wie Christa Wolf ...
... noch mal verschüttet worden ist. Man hätte, so wie wir das in Katlenburg mit der Lesereihe gemacht haben, erst einmal eine Lektüre betreiben sollen, und die hat in der Breite der DDR-Literatur im Westen kaum stattgefunden. Dann hätte man im kritischen Gespräch Fragen stellen können und müssen.
Was für übersehene Brüche und Tabuthemen meinen Sie?
Viele Autoren, die in den Literaturgeschichten gar nicht auftauchen, haben, auch in relativ hohen Auflagen, publizieren können, wenn auch unter Schwierigkeiten. Zum Beispiel Winfried Völlger, der ein Buch geschrieben hat, „Das Windham-Syndrom“, das sehr gut die Situation in der Chemie-Industrie, aber auch in der alternativen Szene in der DDR und den Hunger nach anderen Welten erzählt. Das Buch ist vor drei Jahren noch einmal aufgelegt worden, aber es hat nie die Resonanz gefunden, die notwendig wäre.
Sind Sie angesichts der Erbitterung des Literaturstreits angefeindet worden für Ihren Einsatz für die DDR-Literatur?
Eigentlich nie. Vielleicht war ich für einige nicht so ein Gesprächspartner.
Wollen Sie ein Stück literarische Gerechtigkeit schaffen?
Es ist einfach ein Versuch, die bisherige Wahrnehmung zu ergänzen. Ich habe einen Aufsatz dazu geschrieben: „Vernachlässigte und übersehene Texte der DDR“ mit einer Angabe von etwa 40 Titeln, die ich zu diesem Kanon zählen würde.
Kommen die BesucherInnen der Bücherburg wegen solcher Bücher?
Nein, wir haben ja ein ganz breites Angebot: Wir haben Politik, Geographie, Reisen, Sport, Landwirtschaft, Biologie Medizin, Theaterwissenschaft, Musik, Schauspielkunst, Theologie, Wörterbücher, wir haben ein eigenes Antiquariat mit Kochbüchern, Kinder- und Jugendbücher, Bastelbücher. Es wird oft nach Häkeln gefragt, da gab es ein besonderes Angebot in der DDR, Schulbücher. Und wir haben Technik, Physik, Chemie, Mathematik. Aufgrund eines Sachbuchs über Magnesium-Silikate, das er bei uns fand, hat ein Forscher vom ehemaligen Max-Planck-Institut in Lindau eine Fassung für ein Photospektrometer geschaffen, das mit der Cassini-Sonde zum Saturn geflogen ist. Das zeigt den Wahnsinn der Büchervermüllung.
Wie hat Ihr Umfeld auf die Bücherrettung reagiert?
Die Menschen hat das einfach überzeugt. Zum Beispiel ein Mensch, der eine Doktorarbeit über Rinderzucht schreiben wollte, ist bei uns an Literatur gekommen, die er sonst gar nicht bekommen hätte. Jemand, der an bestimmten mathematischen Problemen interessiert ist, hat bei uns Lehrbücher gefunden, ebenso ist es bei Chemie und Physik, die sich Leute sonst aus Berliner Buchhandlungen oder über Verwandte besorgt haben. Wobei wir seit 1995 ein gesamtdeutsches Bücherensemble haben. Wir bekommen von vielen Privatleuten, Verlagen und Antiquariaten Angebote.
Stemmen Sie sich angesichts des Aufschwungs von E-Books mit der Bücherrettung gegen die Zeit?
Ich denke, das gedruckte Buch hat von seiner Haptik her einen großen Vorteil. Wenn Sie daran denken, wie lange es schon Schriftrollen und Bücher aus geschöpftem Papier gibt, dann wird es die gedruckten Bücher auch weiter geben. Ich habe gerade gestern von einem Leipziger Publizisten aus dem 19. Jahrhundert, Karl Julius Weber, eine Schrift über Bücher gelesen. Da wurde schon diskutiert, ob es gut ist, dass so viel publiziert wird.
Da landen wir wieder bei der Trivialliteratur, die Sie nicht retten wollen.
Bestimmte Trivialliteratur, sage ich mal.
In diesem Jahr haben zwei DDR-Autorinnen, Elke Erb und Helga Schubert, mit die höchsten Literaturauszeichnungen erhalten. Erfüllt Sie das mit Befriedigung?
Von Elke Erb haben wir damals auch ein Buch auf dem Müll gefunden, „Kastanienallee“; sie ist bei uns gewesen und hat es vorgestellt. Der Preis ist eine etwas späte Wertschätzung.
Die geretteten Bücher verkaufen Sie gegen Spende. Kommen da gelegentlich auch Leute, die billig kostbare Bücher mitnehmen wollen?
Wir geben für die Spende einen Wert vor. Am Anfang stand das Dorf voller Autos nach einer Reportage im Kulturreport der ARD. Da hat man versucht, den Kofferraum zu füllen und mit 20 Mark abzuhauen. Das haben wir unterbunden. Eigentlich machen wir sehr positive Erfahrungen.
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