piwik no script img

Giulia Caminitos „Ein Tag wird kommen“Brüder, die Hitze und der Krieg

Die Zeit, in der man lebt, und seine Familie kann man sich nicht aussuchen. Caminitos Debüt ist eine fulminante Welt- und Familiengeschichte.

Als die Traditionen hinweggefegt werden: Caminitos Debüt spielt in den italienischen Marken Foto: Touring Club Marka via getty

Ein Tag wird kommen und der Krieg wird vorbei sein. Die Halbpacht wird ein Ende gefunden haben, aber die Zypressen- und Olivenhaine, sie werden noch da sein. Ein Tag wird kommen, und die unzertrennlichen Brüder Nicola und Lupo, so ungleich, wie Brüder nur sein können, werden einander nicht wiederfinden.

Einen solchen Tag, eine solche Zeit, die eine Familie auseinanderreißt, im Strudel des Weltgeschehens, das sie doch eigentlich nichts angeht, beschreibt Giulia Caminito in ihrem fulminanten Roman „Ein Tag wird kommen“, mit dem sie ihrem Großvater ein literarisches Denkmal setzt.

Jahrhundertwende in den italienischen Marken. Nicola und Lupo sind zwei Söhne des Bäckers Luigi Ceresa. Mit seiner Frau Violante hat er viele Kinder bekommen, die meisten starben noch im Mutterleib, und die, die das Glück hatten (oder wie soll man es nennen?), geboren zu werden, wurden nicht alt. Alle, bis auf die Brüder und ihre älteste Schwester Nella, vergingen wie die Fliegen.

Nicola, der Jüngste, wird vom Dorf verächtlich „Krumenbub“ genannt. Nicola kann kein Mehl schleppen, er zittert und weint, immerzu hat er Angst. In der Hitze des Tages verglüht er, sein Körper ist nicht gemacht für die Arbeit. Ganz im Gegensatz zu dem starken Jungen Lupo, mit unbändigem Willen versehen. Nicola ist ihm eine Last, er wäre ihn gerne los, „… alle anderen Kinder waren verschwunden, nur dieser Nicola wollte um jeden Preis bleiben“.

Das Buch

Giulia Caminito: „Ein Tag wird kommen“. Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Wagenbach, Berlin 2020, 272 Seiten, 23 Euro

Der Wolf in der Verkleidung des Zivilisierten

Man kann sich seine Geschwister nicht aussuchen. Lupo ist getragen von einer unerklärlichen Wut auf alles. Besonders die Religion ist ihm verhasst, er ist der geborene Anarchist. Irgendwann findet er ein Wolfsjunges. Er nennt es Cane. Canis lupus familiaris, der Hund ist dem Menschen ein Mensch. Der Wolf in der Verkleidung des Zivilisierten, ein wenig erinnert das an Lupo selbst.

Was ist das für eine Geschichte? Giulia Caminito erzählt die Geschichte Italiens im Umbruch. Feudale Strukturen werden von Sozialisten und Anarchisten infrage gestellt. Der Roman umspannt die Jahre von der Jahrhundertwende bis nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, der das Brüderpaar entzweien wird.

Geschickt verwebt Caminito zahlreiche Erzählstränge: Da ist die Nonne Suor Clara, einst als sudanesisches Mädchen von arabischen Reitern entführt und verschleppt, später freigekauft, steigt sie im Kloster zur Äbtissin auf. Ausgerechnet eine schwarze Frau! Die Menschen verehren sie; allein Pfarrer Don Agostino ist sie ein Dorn im Auge.

Er sah sich zu Großem bestimmt, predigt aber nun in einer Kirche, in der es gilt, die Hinterlassenschaften der Schafe auszukehren. Gemeint sind echte Schafe, nicht die Lämmer Gottes. Und schließlich tritt Nella in die Geschichte, die älteste Schwester der Brüder, die beide nie kennenlernen durften, weil sie als junge Frau ins Kloster geschickt wurde.

Ein Roman von magischer Sprachenergie

Immer enger verweben sich die Handlungsstränge, die nicht streng chronologisch erzählt werden, vielmehr vor- und zurückblenden, nur um schließlich an einem gemeinsamen Knotenpunkt anzugelangen. Dieser Knotenpunkt betrifft die Bruderschaft Lupos und Nicolas. Man ahnt bald, wer ihre wirklichen Eltern sind.

Die Welt, in der Lupo, Nicola, Suor Clara und Nella leben, wirkt so fremd wie aus dem unsrigen Kosmos gefallen, dass man fasziniert der Geschichte folgt. Und dann ist da diese Sprache! Die gerade einmal 32-jährige Autorin Giulia Caminito strahlt eine literarische Reife aus, besitzt eine sprachliche Kraft, die beeindruckt.

Es ist ein Roman von geradezu magischer Sprachenergie, wie ein Sermon, vorgetragen in Sätzen, die ganze Absätze umspannen, und doch nie altmeisterlich erzählen. Glänzend ist die Übersetzung aus dem Italienischen von Barbara Kleiner.

Giulia Caminito ist die Enkelin Nicola Ugolinos, des Krumenbubs, dem niemand das Leben zutraute, bis er in den Krieg zog. Die Geschichte, die eine überraschende Wendung nimmt, ist eine Verbindung von Familien- und Zeitgeschichte. Sie erzählt von einer Welt, in der tradierte Werte von den Zeitläufen hinweggefegt werden. Der Faschismus tritt an ihre Stelle.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!