Am Rand der eigenen Erfahrungen

Vater Arbeiter, Mutter Migrantin: Deniz Ohde erzählt in „Streulicht“ von Bildungswille und Ausgrenzung

Die Landschaft der Jugend und der Ausgrenzung: Sonnenaufgang nahe dem Industriepark Hoechst Foto: Panthermedia/imago

Von Dirk Knipphals

Es wird ernst. Deniz Ohde, Jahrgang 1988, erzählt in ihrem Debütroman „Streulicht“ eine tief­traurige Aufsteigergeschichte, und von der ersten Seite an ist klar: Diese Autorin spielt nicht. Keine erzählerischen Tricks (oder zumindest fast keine). Kein Verstecken hinter literarischen Posen oder originellen Plots. Ironie schon gar nicht. Vielmehr der Versuch, gesellschaftliche Erfahrungen schreibend zu begleiten oder, wenn die klassische These stimmt, dass Erfahrungen erst dann gemacht sind, wenn man sie erzählen kann, sie also tatsächlich zu machen -

Klingt das uncool? Ist es aber gerade jetzt vielleicht eben gerade nicht. Mit dieser Direktheit, von Erfahrungen zu erzählen (Rolf Dieter Brinkmanns Ratschlag, zu vergessen, was Literatur ist, und einfach anzufangen, mag einem als entfernte Referenz einfallen), kann dieser Roman, wenn nicht alles täuscht, ein gegenwärtiges Lebensgefühl artikulieren.

Der düster glimmende Buchtrailer, den die Leute von Suhrkamp zu ihm herausgebracht haben, leuchtet jedenfalls gleich ein. Dunkle Wolken, Industrielandschaften, Bahnstrecken, Oberleitungen, abblätternde Westdeutsch­land­roman­tik. Das alles kommt im Roman vor, er spielt am Rande eines Industrieparks, der wie die Ich-Erzählerin namenlos bleibt (Vorbild für den Ort ist Frankfurt-Hoechst, wenn ich mich nicht täusche). Vor allem aber trifft das diese gefasste und, denkt man beim Lesen, von jenseits der Wut geschriebene Desillusioniertheit, die den Roman so durchzieht wie die gesellschaftlichen Raster, durch die die Ich-Erzählerin immer wieder hindurchfällt.

Dabei klappt der Aufstieg sogar. Der Vater „tunkte vierzig Jahre Aluminiumbleche in Lauge“, die Mutter emigrierte aus einem 500-Seelen-Dorf an der türkischen Schwarzmeerküste – aus diesem Umfeld arbeitet sich die Erzählerin bis zur Akademikerin hoch. Aber ein Happy End, ein Triumph gar ist das keineswegs. Die Verletzungen bleiben. Und in ihrem neuen Umfeld – „Es waren Töchter und Söhne aus guten 68er Haushalten, sie hatten die alten Atomkraft?-Nein-Danke-Aufkleber ihrer Eltern geerbt“ – bleibt die Erzählerin fremd.

Thematische Linien durchziehen den Text. Wo hört Freundschaft auf? Wo beginnt die Landschaft der Jugend, wo hört sie auf? Wo endet Einsamkeit? Und auch: Wie greifen die feinen Unterschiede? Das Essen in Restaurants, die Kleidung, aus welchen Tassen man trinkt, wann man das Besteck weglegt, das alles kann der Erzählerin zur Falle werden. In vielen Details wird das beschrieben.

Zwei Themen bleiben ständig aufeinander bezogen: das Aufstiegsversprechen durch Bildung und der Rassismus. Das Bildungsversprechen gehört zum Kern der Bundesrepublik. Zumindest als Verheißung ist es sehr präsent – ziemlich genau in der Mitte des Buchs kommen die Werbeumhängetaschen der Zeit vor, mit der die zu diesem Punkt jugendliche Erzählerin ihren Willen zur gesellschaftlichen Zugehörigkeit demonstrieren möchte („Chancen“, „Wissen“, „Feuilleton“). Dagegen wird beim Rassismus gerade sein allgemeines Nichtthematisieren thematisiert.

Einmal wird die Erzählerin auf dem Schulhof geschubst: „Ich sagte meiner Mutter auf dem Heimweg, welches Wort ich gehört hatte vor dem Stoß. Ich fragte, was es bedeutete, und sie sagte, dass das nicht sein könne, dass unmöglich ich damit gemeint sein könne. ‚Es ist ein Schimpfwort‘, sagte sie. ‚Aber du kannst nicht gemeint sein. Du bist Deutsche.‘“

In einer späteren Szene fragt die Erzählerin ihren Vater: „Und was ist mit Mama?“ Ihr Vater antwortet: „Wie? Wie, was soll sein –?“ „Das hat doch eine Rolle gespielt“, sagt die Erzählerin. Und der Vater sagt darauf gar nichts und wechselt das Thema.

Der Wille der Erzählerin zur gesellschaftlichen Zugehörigkeit, zum Gesehenwerden trifft auf ein Wegsehen von den gesellschaftlichen Umständen bis in das familiäre Umfeld ­hinein. Dass diese Erfahrung womöglich sogar viel irritierender ist als direkter Rassismus – „Es war die Zeit, als die Häuser brannten“, lautet einer der eingesetzten Zeitmarker –, macht dieser Roman sehr deutlich.

Während die ältere Lehrergeneration noch umstandslos vom „Aussieben“ auf dem Gymnasium redet, versteht später die jüngere Referendarsgeneration das Problem einfach nicht. In einer schön gemeinen Szene mit dem jungen Lehrer Herr Schiller – „‚Ich werde das Schulsystem von innen heraus ändern‘, diesen Satz hat er mit Sicherheit gesagt“ – wird klar: Auch Wohlmeinende gehen davon aus, dass Schüler, die durchs Raster fallen, selbst etwas falsch gemacht haben müssen. Dass so etwas passieren kann und tatsächlich wie von selbst passiert, dass man als Lehrer hinsehen muss, weiß hier noch niemand.

Deniz Ohde Foto: H. Steinweg/Suhrkamp

Aber „Streulicht“ ist kein „Roman über …“, kein literarisiertes Paper zur Integrationsproblematik. Die Erzählerin ist auch keine Repräsentantin, sie steht für sich, und die Erfahrungen, die man beim Lesen machen kann, sind aus dem Inneren dieser Figur heraus entwickelt. Was einen beim Lesen so eindringlich anspricht, ist gar nicht, dass man mit diesem Buch Arztsohn-Vorwürfe entkräften könnte, sondern vor allem auch das Vertrauen der Erzählerin darauf, dass es auf genaues Erzählen ankommt. Wer gesehen werden will, muss sich eben auch zeigen, ohne Posen.

Lebendig machen den Roman die vielen mit dem genauen Blick der Außenseiterin gesehenen Porträts von Figuren, egal ob es um das „sichere Frausein“ der Mutter der besten Freundin Sophia geht oder um die Mitschüler*innen auf der Abendschule, auf der die Erzählerin das Abitur nachholt und feststellt, dass sie alles, was sie offiziell erst noch lernen soll, in Wahrheit längst weiß, sich nur bislang selbst nicht zutraute: „Wie sie ihre Zigaretten rauchten auf dem Gehweg, dabei schon gezeichnet vom Leben, abgeklärt, einige auch resigniert, mit hängenden Schultern, die Daunenjacke über den Jogginganzug gezogen.“

Für die Porträts ihrer Eltern – es sind Einzelporträts, zusammen tauchen sie kaum auf – fügt die Erzählerin immer neue Perspektiven an. Beide werden sie im Verlauf des Romans bis auf die Knochen analysiert, und doch bleiben sie ein Stück weit rätselhaft. Der Vater, Alkoholiker, Messi, findet immer neue gute Gründe dafür, warum man etwas in der Wohnung und in seinem Leben heute nicht anpacken sollte; er muss sich an allem festhalten, und sei es an überflüssigem Plunder. Und die Mutter kann sich nicht aus ihren patriarchalischen Prägungen lösen, verlässt zwischendurch Mann und Tochter sogar und wird immer kraftloser.

Ihr, die es aus der provinzielle Enge der Türkei herausgeschafft hat, nur um in der Arbeiterklassenenge der alten Bundesrepublik zu landen und dort langsam zu verglimmen, setzt Deniz Ohde in diesem Buch ein kleines Denkmal (ob die Hintergründe autobiografisch sind, weiß ich nicht, es spielt für die Dringlichkeit des Leseeindrucks auch keine Rolle). Und der Vater wird keineswegs vollständig verdammt, am Schluss deutet sich sogar ein Hauch der Möglichkeit von Nähe an.

Es ist nur klar, dass die Erzählerin aus diesem Leben raus musste – ohne dass sie wissen würde, wohin eigentlich.

Deniz Ohde: „Streulicht“. Suhrkamp, Berlin 2020. 284 S., 22 Euro