Russischer Oppositioneller Nawalny: Kremlkritiker im Koma

Der russische Putin-Kritiker Nawalny liegt auf der Intensivstation. Ein Arzt vermutet eine Vergiftung. Es wäre nicht die erste Attacke auf ihn.

Trauerzug mit russischen Fahnen, in der Mitte geht Alexei Nawalny

Im Februar nahm Nawalny an einem Marsch teil, der an den Mord an Boris Nemtsov erinnerte Foto: Sergei Fadeichev/imago

MOSKAU taz | Alexei Nawalny war auf dem Heimweg von Sibirien, als er im Flieger von Tomsk nach Moskau plötzlich zusammenbrach. Nach einer Notlandung nach 900 Kilometern in Omsk, brachten ihn Ärzte in eine Klinik der sibirischen Industriestadt. Seitdem liegt der 44-jährige Kremlkritiker im Koma, angeschlossen an ein Beatmungsgerät. Sein Zustand sei stabil, teilte einer der behandelnden Ärzte am Nachmittag mit und fügte hinzu: „Vergiftung ist eine der Möglichkeiten dafür.“

Nawalnys Sprecherin Kira Jarmysch, die ebenfalls auf dem Flug mit dabei war, sagte: „Ich bin sicher, dass er absichtlich vergiftet wurde.“ Jarmysch zufolge soll Nawalny an dem Tag nichts anderes außer Tee am Flughafen von Tomsk zu sich genommen haben. Auf der Flugzeugtoilette habe er schließlich das Bewusstsein verloren. Die Ergebnisse der Blutanalyse lagen zu Redaktionsschluss noch nicht vor.

Der Kardiologe Jaroslaw Aschichmin, der Nawalny seit 2013 ärztlich betreut, sprach davon, Nawalny nach Europa verlegen zu lassen. „Corona erschwert die Lage, aber Hannover oder Straßburg kämen in Frage, weil es nicht nur darum geht, Alexeis Leben zu retten, sondern auch nach dem Stoff im Körper zu suchen, der einen solchen Zustand verursacht haben könnte“, sagte er dem Onlineportal Meduza.

Laut staatlicher russischer Nachrichtenagentur Tass gehen die Sicherheitsbehörden nicht von einer absichtlich herbeigeführten Vergiftung aus. Nawalny habe möglicherweise selbst etwas zu sich genommen, hieß es.

Vergiftung oder allergische Reaktion?

Der Fall scheint verworren, ausgeschlossen ist eine Vergiftung aber nicht. Es wäre schon die zweite versuchte Vergiftung Nawalnys. Bereits im vergangenen Sommer, als er während der Proteste vor der Wahl des Moskauer Stadtparlaments eine Arreststrafe absitzen musste, wurde er in eine Klinik eingeliefert. Nawalny und seine Mitstreiter hatten schon damals von einer Vergiftung mit einem in die Bettwäsche geschüttelten Pulver gesprochen. Ärzte hatten jedoch lediglich eine „allergische Reaktion“ diagnostiziert.

Giftstoffe im Tee bekam einst auch Anna Politkowskaja in einem Flieger nach Beslan in Nordos­setien serviert. Nur knapp überlebte die Journalistin der kremlkritischen Zeitung Nowaja Gaseta den Giftanschlag. 2006 wurde Politkowskaja vor dem Fahrstuhl ihres Wohnhauses in Moskau erschossen. 2018 wurde außerdem der Aktionskünstler und Macher der kremlkritischen Onlineplattform Mediazona, Pjotr Wersilow, vermutlich ebenfalls mit einer Substanz im Tee vergiftet und musste in Berlin behandelt werden.

Nawalny lebt seit jeher gefährlich. 2017 war ein Farbanschlag auf seine Augen verübt worden. Der Moskauer verlor fast sein Augenlicht und wurde auf Druck aus dem Ausland, trotz Ausreisesperre, in Spanien operiert.

Der Mann, dessen Namen Russlands Präsident Wladimir Putin nicht in den Mund nimmt, ist ein Fremdkörper in der russischen Politik. Und gerade deshalb einer, der vom System Putin als Bedrohung wahrgenommen wird. Als Nawalny bei der Moskauer Bürgermeisterwahl im Jahr 2015 mehr als 25 Prozent der Stimmen erreicht hatte, war die politische Elite alarmiert.

Bei der Präsidentschaftswahl 2018 durfte Nawalny gar nicht erst antreten. Der Grund: Seine Vorbestrafung. In einem politisch motivierten Prozess war der Antikorruptionskämpfer 2013 zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Das Urteil wurde später in eine Bewährungsstrafe umgewandelt.

Nawalny ist bei den Jungen beliebt

Nawalnys Stiftung, mit der er seine oft für Furore sorgenden Enthüllungen über die Bereicherung der Elite Russlands – bis hin zum früheren Ministerpräsidenten Dmitri Medwedjew – finanziert, ist mittlerweile formal geschlossen. Von politischen Ämtern im Land ist Nawalny ausgeschlossen.

Der Kreml wünschte Nawalny „gute Besserung – wie jedem russischen Bürger“

Doch er ist der eloquente, oft populistische Mobilisierer vieler Unzufriedener – und vor allem bei den jüngeren Menschen im Land beliebt. Von allen russischen Regierungsgegnern hat er das am besten ausgebaute Unterstützernetzwerk in der Provinz. Für die Regionalwahl im September dieses Jahres sind an einigen Orten auch Nawalnys Kandidaten zugelassen.

Der Giftanschlag, so ist seine Sprecherin Jarmysch überzeugt, sei in diesem Zusammenhang passiert. „Offenbar sehen die Mächtigen irgendeine gefährliche Situation darin und wollen Alexei neutralisieren“, sagte sie dem Radiosender Echo Moskwy.

Angefangen hatte der selbstbewusste Jurist, der auch in Russlands liberaler, außerhalb des offiziellen Parteiensystems organisierten Opposition umstritten ist, mit dem sogenannten Shareholder Activism, als Minderheitenaktionär klagte er gegen die Unternehmen. Die Selbstbereicherung von Putins Elite verknüpft er gekonnt mit Kritik an der wachsenden sozialen Not im Land.

Auch vor seinem Rückflug von Sibirien nach Moskau war er auf Recherche für seinen Youtube-Kanal, wollte laut seinen Mitstreitern über die Bereicherung einiger Mitglieder der Regierungspartei Einiges ­Russland in Sibirien berichten. Der Kreml wünschte Nawalny „gute Besserung – wie jedem russischen Bürger“.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.