Kasperle und der Kolonialismus

Abgetrennte Köpfe und exotisierte Fremde: In einer virtuellen Ausstellung setzt sich das Theaterfigurenmuseum in Lübeck mit der eigenen Sammlung und Ausstellungspraxis auseinander

Wie stellt man sie aus, ohne die Figuren als das „faszinierende Andere“ zu präsentieren? Zwei männliche Holzfiguren der Ogoni aus Nigeria stehen im Theaterfigurenmuseum Foto: Theaterfigurenmuseum

Von Robert Matthies

Nur der bunte hölzerne Löwenkopf mit den funkelnden Glasaugen ist nach Lübeck gekommen. Der dazugehörige Körper fehlt. Ein zoomorphes Ganzkörperkostüm gehörte vielleicht dazu und ein Tragegestell, auf dem er gethront haben mag, wenn er nicht von Sänger:innen und Musikern begleitet zum Beginn der Ernte- und Jagdzeit seinen Auftritt als mächtigster Jäger der Savanne und als Verkörperung von Stärke, Männlichkeit, Tapferkeit und Macht hatte. Aber all das, auch der kulturelle Kontext, in dem der Löwenkopf sinnhaft eingebettet ist, ist im afrikanischen Mali geblieben.

Viel Konkretes weiß Sonja Riehn vom Lübecker Theaterfigurenmuseum denn auch nicht über diesen Kopf eines wana, eines Löwen des malischen Masken- und Marionettenfestes Sogo Bò aus der Sammlung des Museums. Nur wo und in welchem Jahr das erst nur „Tierkopf“, dann „Löwenkopf“ bezeichnete Objekt gekauft wurde und dass es eine Figur der Bambara ist, der Ackerbauern am mittleren Niger. „Wer genau die Figur, wann, für welches Dorf und welches Fest geschnitzt hat, wurde leider nicht festgehalten“, schreibt Riehn im Blog des Theaterfigurenmuseums.

Seit Juni setzt sich das Museum in einer virtuellen Ausstellung mit dem Thema Kolonialismus und Figurentheater auseinander, will „die Fäden entwirren“. Zeit genug haben Riehn und Museums-Geschäftsführerin Antonia Napp gerade für ihre „ersten postkoloniale (Denk)Schritte“ im Rahmen des vom Theater Lübeck initiierten Projekts „Transition/Tage. Kolonialismus begreifen. Kolonialismus überwinden?“: Seit 2017 ist das Museum in fünf historischen Kaufmannshäusern in der Lübecker Altstadt für Sanierungsarbeiten geschlossen, wohl noch bis Ende 2022. Zur Wiedereröffnung soll die Dauerausstellung in einer anderen Form präsentiert werden, sagt Napp.

Mehr als 30.000 Exponate aus drei Jahrhunderten hat der aus einer Puppenspielerfamilie stammende Lübecker Kameramann und Sammler Fritz Fey zusammengetragen, rund 1.000 von ihnen stellt das Museum seit 1982 aus. Neben Puppen und Masken sind dort Plakate oder Bühnenbilder zu sehen. Ganze Nachlässe von deutschen Figurenspielerdynastien hat Fey gekauft, aber auch zahlreiche Objekte aus Asien und Afrika, darunter Schattenfiguren aus Indien, Masken und Figuren aus Afrika und Marionetten aus Burma und China, deren Herkunft oft nicht klar ist.

In Bezug auf das Thema Kolonialismus stellen sich bei diesen Objekten andere Fragen als bei den europäischen Ausstellungsstücken. Auch bei denen, meist historische Theaterfiguren eben, spielen zwar tief sitzende koloniale und rassistische Denkmuster eine Rolle, etwa wenn sich zu Märchenfiguren regelmäßig „exotisch-fremde“ Figuren gesellen. Zumindest der Kontext aber, in dem sie als belebte Dinge auftraten, scheint auch in der angestrebten kritischen Rekontextualisierung der Dauerausstellung darstellbar.

Bei einer außereuropäischen Provenienz aber müsse man davon ausgehen, schreiben Riehm und Napp im „Intro“ zur virtuellen Ausstellung, überhaupt nur einen Teil dessen erfassen zu können, „was die Figuren selbst in den Vorstellungen ihrer kulturellen Herkunftsgemeinschaften bedeuteten und was sie im Moment der flüchtigen Aufführung an Bedeutungen produzierten“. Neben dem in die Figuren eingeschriebenen Rassismus sei die große Herausforderung des Museums der „Kontextverlust aller performativen Figuren“.

In drei Etappen beschäftigt sich die Ausstellung mit der Objektifizierung und zeigt die Wandlung einer Figur zum Museumsstück: Am Beispiel der malischen Tierköpfe geht es zunächst ums „Abtrennen“: darum, was es bedeutet, Dinge aus ihren ursprünglichen Kontexten herauszulösen. Der zweite virtuelle Raum hat das „Klassifizieren“ zum Gegenstand: Was passiert mit neu erworbenen „Sammlungsstücken“ zwischen ihrem Eintreffen und ihrer Magazinierung, welchem Prozess des Ordnens und Systematisierens unterliegen sie – und wer kontrolliert dieses Wissen über die Objekte?

In einem dritten Raum geht es schließlich um die Ausstellungspraxis, um das „Zeigen“ von Dingen: Welcher Rahmen wird für die Präsentation im musealen Kontext geschaffen? Welche Rolle spielen Vitrinen? Welche Authentizität suggerieren Inszenierungen? Und wie hat das Museum selbst es in der Vergangenheit gehandhabt?

Im November wird die Ausstellung fortgesetzt, dann soll es um den anstehenden Perspektivwechsel gehen. Der aber, sagt Antonia Napp, könne gar nicht vom Museum selbst und allein aus einer Binneperspektive heraus bewerkstelligt werden. „Ganz wichtig ist uns, eine Vielstimmigkeit herzustellen.“ Den nächsten Teil der Ausstellung sollen deshalb Stimmen von außen bestreiten.

Kolonialismus und Figurentheater. Die Fäden entwirren“. Virtuelle Ausstellung des Lübecker Figurentheatermuseums unter www.theaterfiguren-kolk.de