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: Die Festung Müllvermeidung wurde geschleift

Die Freundin-Kollegin und ich treffen uns zum Inlinern auf dem Tempelhofer Feld. Ohne Kinder, vor rotem Sonnenuntergangshimmel. Das Material unter den Füßen wurde seit Jahren nicht gewartet und ist überraschend verschlissen, die Lager in den Rollen schaben, das Rollengummi fasert weich über den Asphalt und macht Schmatzgeräusche.

Wir staksen eher, als dass wir gleiten, haben dabei aber ­ausreichend Zeit, um uns ­gegenseitig zu gestehen, dass wir das Wiedererwachen des sozialen Lebens erstaunlich wenig euphorisch begrüßen. Dass wir dieses Niemanden-sehen-Müssen im Lockdown angenehm fanden. Und dass wir jetzt, da sich die Parameter vom Menschen als Gruppentier wieder imperativ installieren, gezwungen sind, diese Empfindungen auf ihre Ursachen zu überprüfen.

Und wenn man damit erst mal anfängt … Mir fällt ein, dass ich als Kind lange Zeit nur einen Berufswunsch hatte: „Mönch im Mittelalter“.

Was hatten wir vor drei Monaten noch gedacht, wie anders alles werden würde. Und jetzt trinken wir schon wieder Radler auf Bierbänken, während die Tourismusbranche vermeldet, die Kreuzfahrt-Buchungen für 2021 gestalteten sich zufriedenstellend. Den Kaffee am nächsten Morgen trinken wir nach gefühlt drei Jahren, in denen das echt gar nicht mehr ging, völlig selbstverständlich aus Wegwerfbechern. Geht eben gerade nur to go, was soll man machen.

Auch die Shampoo-Seife zu Hause wurde schon wieder durch Flüssigshampoo im Plastikgefäß ersetzt. Wenn die Kinderbetreuung nicht verlässlich läuft und die Erschöpfung groß wird, sind die strohigen Haare von der Shampoo-Blume eben plötzlich nicht mehr akzeptabel. Corona hat die Festung Müllvermeidung geschleift.

Und dann gestern der neunte Geburtstag der größeren Tochter. Wir wussten lange nicht, was tun. Feiern? Ja, nein, wo und mit wie vielen? Die Fragen nervten irgendwann. Die Lust, alles absolut richtig zu machen, schwand. Für aufwendige Outdoor-Rallyes fehlte die Orga-Kraft. Wir entschieden dann recht spontan, mit fünf Kindern aus der einen Schulklassenhälfte zum Schwarzlicht-Minigolfen im Görlitzer Park zu gehen, hinterher Pizza-Picknick mit Pizza aus dem Pappkarton.

In den WhatsApp-Einladungen (zum Basteln hatten wir auch keine Energie mehr) baten wir die Eltern, den Kindern doch bitte die Masken mitzugeben. Die blieben dann aber in den Taschen, hübsch genäht und hübsch fürs gute Gewissen. Kein einziges Elternteil äußerte Bedenken wegen der Feier. Alle sind einfach nur froh, wenn die Kinder für ein paar Stunden mehr irgendwie aus dem Haus sind.

Die Kinder bekamen Sprite und Knicklichter, dann droschen sie besinnungslos auf die Minigolfbälle ein. Von den Wänden leuchteten neonfarben fluoreszierende Planetensysteme und Totenköpfe in Raumanzügen neben Berliner Wahrzeichen wie Goldelse, Nofretete und Currywurstbude. Aus den Boxen schallerten Techno-Coverversionen von Frühneunziger-Hits, „Killer“ von Adamski und so. Nach 18 Bahnen saßen wir an einem mit Luftschlangen, Chips, Flips und Zupfkuchen gedeckten Tisch und alles war verwirrend gleichzeitig ultratrashig, museumshaft und unwirklich, aber eben auch angenehm bekannt.

Während wir Pappteller und -strohhalme zum Mülleimer trugen, rannten die Kinder schon raus. Sie schrien: „Los, wir spielen Virus!“ Das Spiel ging so: Eine*r war Virus. Der Virus musste versuchen, die anderen zu berühren, eine kurze Berührung reichte, um sie „anzustecken“. Kreischend rannten sie voreinander weg und wurden doch zwangsläufig immer mehr Viren. Das letzte „gesunde“ Kind hatte gewonnen.

Danach wurde ein neuer Erst-Virus bestimmt, und alles ging von vorne los. Ich meine mich zu erinnern, dass man dieses Spiel früher „Fangen“ nannte. Schön, dass doch etwas fundamental anders geworden ist.

Kirsten Riesselmann