debatte
: Der Kampagnenfaktor

Beim Streit über eine neue klimapolitische Radikalität wird das Potenzial zivilgesellschaftlicher Einsprüche unterschätzt

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Martin Zülch

studierte Soziologie und Kunst, unterrichtete Politik an einer Gesamtschule, publizierte zum Thema Kunst und Ökologie und ist Mitglied der GEW. Seit 2018 befasst er sich mit Kampagnenpraxis – dazu sind auf der Website der Bremer Heinrich-­Böll-Stiftung eine Studie und zwei Kampagnen­überblicke erschienen.

Wie es mit den Klimaprotesten weitergehen soll – in Richtung einer konsensorientierten Bürger- oder einer „radikalen“ Blockadebewegung –, darüber bestehen zwischen namhaften Kli­ma­ak­ti­vis­t*innen Meinungsverschieden­heiten: Während sich Luisa Neubauer von Fridays for Future (FFF) dafür ausspricht, an der „Arbeitsteilung“ zwischen legalen Massendemonstrationen und Praktiken zivilen Ungehorsams festzuhalten, plädiert Tadzio Müller von Ende Gelände für ein Umschalten auf „massenhafte“ Regelbrüche gegenüber einem klimaschädlichen System.

Die Netzkampagnenpraxis kommt im strategischen Denken der Kontrahent*innen nicht vor – ein Aktivismus, der Ziele von FFF und Ende Gelände verfolgt, sich jedoch nicht mit Straßenprotesten begnügt. Bevorzugte Mittel sind Inter­ven­tions­medien: Onlinepetitionen, Aufrufe, offene Briefe, Twitter- und E-Mail-Aktionen. Dieser Aktivismus geht von Plattformen wie etwa Campact, WeAct, Change.org, WeMove.EU, aus, ebenso aber von NGOs – etwa vom WWF, BUND, Rettet den Regenwald oder der Deutschen Umwelthilfe, die auch mit FFF-Aktivist*innen Kampagnen durchführt.

Insofern gibt es in der Klimabewegung bereits Stimmen, die sich für mehr Kampagnenpraxis einsetzen, doch scheint dort ihre Nichtbeachtung zu überwiegen. Gezeigt hat sich das besonders beim von FFF in diesem April organisierten Netzstreik, der die 230.000 Zuschauer*innen des Live­streams nicht zu einer Beteiligung an zielführenden klima- und umweltpolitischen Kampagnen angeregt hat. Stattdessen überwogen bei der Direktübertragung und der Aktion vor dem Reichstag mündliche Statements, Gruppenbeiträge und selbstgefertigte Demoplakate.

Auch das inzwischen abgesagte Demokratiefestival 12/06/2020 im Berliner Olympiastadion hätte sich über die vorhandene Eingabepraxis hinweggesetzt. Bei dem von einem Start-up gemeinsam mit Aktivist*innen von FFF und den Scientists for Future (S4F) organisierten Event sollten mehr als 50.000 Menschen mit ihren Smart­phones über neue, an den Petitionsausschuss adressierte Sammelpetitionen zu den Themen Klimawandel, Rassismus und Diskriminierung abstimmen und so dessen Sperrklausel umgehen. Die Vielzahl bereits existierender Petitionen und die damit verbundene Herausforderung, zunächst diese zu unterstützen, hätte kaum eine Rolle gespielt. Stattdessen wäre es darum gegangen, den Bundestag aus dem Stand politisch unter Druck zu setzen.

Woran liegt es aber, dass die Aufmerksamkeit für zielführende Netzkampagnen in der Klimabewegung offenbar nur schwach entwickelt ist? Warum setzen sich Klimaaktivist*innen nicht stärker für eine breite Unterstützung relevanter Eingaben ein – wie etwa zum Inkrafttreten Europäischer Bürgerinitiativen (EBI), die eine europaweite Besteuerung von Flugbenzin, Einführung von CO2-Abgaben oder den Erhalt einer existenzsichernden Biodiversität anstreben?

Solchem Engagement scheint manches entgegenzustehen, nicht zuletzt eine in der Protestszene verbreitete Skepsis gegenüber der Durchsetzungsfähigkeit politischer Eingabepraktiken. Diese lässt sich indes etwa mit dem Erfolg von Wasser ist ein Menschenrecht (Right 2 Water) oder Etappensiegen entkräften, die durch Eingaben gegen den Einfluss der Autolobby oder zur Einführung eines Lieferkettengesetzes erzielt wurden. Solche Beispiele belegen, dass die Kampagnenpraxis durchaus etwas bewirken kann.

Auffällig ist jedoch, dass diese Wirksamkeit durch eine extreme Häufung ambitionierter Eingaben geschwächt wird, die zu Verdruss und Ablehnung führen kann. Seit 2019 sind vermutlich weit mehr als hundert klima- und umweltpolitisch relevante Eingaben im Netz publiziert worden, die sich auf verschiedenste Problemfelder beziehen. Insofern konterkariert eine infla­tio­nä­re Eingabepraxis die Breitenwirkung des Kampagnenfaktors, und dies vor allem dann, wenn zu identischen Themen mehrere, überwiegend gleichlautende Einsprüche verbreitet werden.

Vor diesem Hintergrund könnte man verstehen, warum eine Stärkung der Kampagnenpraxis in Strategiedebatten kaum Beachtung findet. Doch wird damit die Chance verspielt, sie als zusätzlichen Einflussfaktor in der breiten Öffentlichkeit zu etablieren.

Die Szene muss über konkurrierende Organisationslogiken hinaus kooperieren

Selbstgewisse Aussagen zur „Macht der Massen“ (Neubauer) führen allerdings nicht weiter. Vielmehr käme es darauf an, im Spannungsfeld zwischen Straßen- und Netzaktivismus Synergiepotenziale freizusetzen und so den zivilgesellschaftlichen Druck zu erhöhen. Denn eines scheint klar: Die Stärkung des Kampagnenfaktors steht und fällt damit, über private Zirkel hinaus publik zu werden und sich auch auf Kundgebungen, Medienauftritte, öffentliche Debatten und Fortbildungen zu erstrecken.

Doch dafür müsste sich die Kampagnenszene neu orientieren. Auch sie müsste sich zu einer Kooperation durchringen, die über konkurrierende Organisationslogiken hinausreicht, und das Ziel verfolgen, zivilgesellschaftliche Willensbildung zu erleichtern: Dann erst könnten Einsprüche in gemeinsam organisierten Kampagnen gebündelt werden, um deren Resonanzraum zu erweitern.

Angesagt ist daher ein viel stärkeres Zusammenwirken aller klimapolitisch engagierten Kräfte. Dafür gibt es erste Anzeichen wie etwa der im Juni von 60 Organisationen an die Bundesregierung und die EU-Kommission gerichtete Aufruf zum Stopp des EU-Mercosur-Abkommens, dem vier Eingaben, darunter ein Campact-Appell mit rund 413.000 Unterschriften, vorausgegangen sind. Oder die anlässlich der deutschen EU-Ratspräsidentschaft durch fünf Akteur*innen erfolgte Übergabe von Petitionen zur Durchsetzung so­zial­öko­lo­gi­scher Konjunkturprogramme mit insgesamt 1,3 Millionen Unterschriften.