: Abschiebeverfahren und Tee mit Milch
In Osnabrück erweitert der Multimediakünstler Nasan Tur seine Ausstellung über Fremdheit und Flucht mit einem partizipativen Buch-Projekt: „Ausblicke“ versammelt persönliche Geschichten über das Leben im Exil und den ganz alltäglichen Rassismus in Deutschland
Von Harff-Peter Schönherr
Es gibt Menschen, die geben viel von sich preis. Auch wenn es wehtut, ihnen selbst und uns anderen. Nasan Tur ist einer dieser Menschen. Schonungslos zeigt er uns seine Ängste, seine Schwächen – damit wir uns unserer eigenen Ängste bewusst werden, unserer eigenen Schwächen. Authentischer, schmerzvoller, feinnerviger kann Kunst nicht sein.
Noch bis Mitte November ist im Nussbaum-Haus des Museumsquartiers Osnabrück eine Ausstellung des performativen Berliner Multimediakünstlers zu sehen, deren Titel nicht sprechender, nicht schlichter, nicht nackter sein könnte: „Nasan Tur“ (taz berichtete). Es ist eine der kleinsten, aber zugleich eine der berührendsten, bewegendsten Ausstellungen, die dieses Haus je gezeigt hat. Mit alptraumhaften Szenen der Fremdheit und Flucht konfrontiert sie uns mit Szenen der Zerfaserung jeglicher Identität, existenzieller Unsicherheit.
Intensive Begegnungen
Noch bis Mitte November? Das klingt üppig für eine Schau, die nur vier Exponate umfasst. Aber die lange Laufzeit ist jetzt ein guter Puffer. Denn seit Anfang März erweitert Tur „Nasan Tur“ um das Partizipativ-Projekt „Ausblicke“. Und was damals galt, gilt noch heute: Es ist ein Work in progress. Denn Corona kam, machte Treffen unmöglich. Besonders hart für ein Projekt, bei dem es um Begegnung geht, um Kommunikation. „Das hat uns natürlich ziemlich ausgebremst“, sagt Tur.
„Ausblicke“ erfordert Nähe, Vertrauen. Tur besucht dafür Menschen, die in Osnabrück im Exil leben, physisch wie seelisch, die Ausgrenzung erfahren haben, Alltagsrassismus, religiöse Diffamierung. Tur erzählt ihnen von sich, hört ihren Geschichten zu, sehr persönlichen Geschichten, Geschichten, die vielleicht vorher so nie erzählt wurden. Und am Ende entstehen Fotos: Ein „Augenblick“, als Porträt, und ein „Ausblick“ aus einem der Fenster der Wohnung, auf eine Stadt der Fremde – eine Stadt, in der alle Menschen gleich sein sollten und es nicht sind. Enge Kontakte sind so entstanden. „Ich habe viel Gastfreundschaft erfahren“, sagt Tur. „Das waren – und sind – höchst intensive Begegnungen.“
Geplant war „Ausblicke“ nicht. Aber das Museumsquartier versteht sich als Möglichkeitsraum. „Hier herrscht Offenheit, Mut zu Neuem“, sagt Tur. „Und das ist bei einem Museum nicht selbstverständlich. Ich habe sofort gespürt: Das hier ist ein Ort, an dem Experimente möglich sind. Also haben wir angefangen.“ Die organisatorischen Fäden laufen bei Laura Hartmann zusammen, als „Museumslotsin“ zuständig für „diversitätssensible Vermittlung“.
Auch heute, am ersten Sonnabend der Sommerferien, zeigt sich, wie groß das gegenseitige Vertrauen ist. Neben dem Nussbaum-Haus, zwischen einem farnumwachsenen Teich und einem Dickicht aus Rosen und Rhododendren, stehen zwei Tische. Apfelschorle ist zu haben, Wasser, Orangensaft. Es wird viel gelacht, gestikuliert. Manchmal sprechen alle Deutsch, manchmal alle Englisch, manchmal geht es nach jedem Halbsatz kreativ durcheinander. Tur sagt was von „Mauern durchbrechen“. Hartmann spießt genießerisch eine Gabel in ihren Salat.
Ayse Korkmaz, deutsche Staatsbürgerschaft, türkische Wurzeln, sitzt eine Weile schweigend. „Ich bin oft eher eine Beobachterin“, sagt sie. Und dann erzählt die Poetry-Slammerin von ihrem Text für die erste große Black-Lives-Matter-Demo in Osnabrück, Anfang Juni. Da stand sie vor Tausenden Menschen. Als Muslima trägt sie ein Kopftuch, und ihre Motivation, an „Ausblicke“ teilzunehmen, ist der anti-islamische Rassismus.
Welche Schocks der verursachen kann, weiß Korkmaz genau: „Im Mai wurde ich in Bielefeld hinter dem Bahnhof angegriffen. Eine düstere Ecke, aber ich musste da hin, weil da mein Auto stand. Ich wurde beschimpft, angespuckt, man wollte mir mein Kopftuch runterreißen. Der Polizist, der meine Anzeige aufnahm, sagte zu mir: Rassismus sehe ich da nicht.“
Bei Ayse Korkmaz war Tur noch nicht zu Besuch. Aber das kommt noch. Und dass sie für die Buchproduktion, mit der „Ausblicke“ im November endet, zeitgleich zu „Nasan Tur“, einen Text beisteuert, steht schon fest: „Wenn auch nur ein einziger Mensch das liest, darüber spricht, das weiterträgt, habe ich schon viel bewirkt.“
Auch Mansour Sarrami sitzt mit in der Runde. Er kommt aus dem Iran und steht vor dem Abschluss seines Masters in Kunst und Kommunikation an der Uni Osnabrück. „Es ist schwer, Teil der hiesigen Gesellschaft zu werden“, sagt er. „Das merkst du überall. Wenn du einen Job finden willst, eine Wohnung.“ Sarrami steuert zum „Ausblicke“-Buch zwei Zeichnungen bei, ein Selbstporträt und eine Stadtansicht, außerdem eine Kurzgeschichte. „Die handelt von einem Flüchtling. Aber sie spielt nicht in heutiger Zeit.“
Auch das „Ausblicke“-Buch ist ein Möglichkeitsraum, vom Rezept bis zu Einzelbildern aus einem eigens gedrehten Video. Genre und Thema sind freigestellt. Auch das Aufsichtspersonal beteiligt sich. Mechthild Achelwilm, die Kuratorin von „Nasan Tur“, hat ihren Text fertig: „Das war für mich etwas sehr Besonderes. Ich schreibe ja sonst immer wissenschaftlich, neutral, eher akademisch. Aber diesmal ging es um mich. Wie ich ganz persönlich die Ausstellung sehe, die ich kuratiert habe, was eigentlich genau meine Aufgabe ist, hier im Museum ...“
Nasan Tur, dem die „soziale Rolle der Institution Museum“ wichtig ist: „Das muss keine große Textkunst sein. Hauptsache, es hat Unmittelbarkeit, kommt aus dem Gefühl heraus.“ Derweil erweitert sich die Runde im Garten. Klappstühle werden von den Tischen gekettet. Tur dazu: „Freiheit!“ Er lacht. Das tut er gern.
Tattoos und Kokoswasser
Offenheit herrscht. Mal geht es um Lord-of-the-Rings-Tattoos, mal um die Grenzen der Selbstüberwindung. Mal geht es um den Geruch von Bohnerwachs, mal um Kokosnusswasser. Hartmann erzählt von einer WG, Tur von einer Erinnerung an die Zeit, als er 17 war: „Piña Colada! Furchtbar süß. Einfach ekelhaft, das Zeug!“ Es geht um Abschiebeverfahren und Tee mit Milch, um Schlaflosigkeit und Bustickets, um die Bantusprache Kikuyu. Und dann sagt Joy Wendo, aus Kenia, dass sie mitmacht, um „dem Rassismus hier ein anderes Narrativ entgegenzusetzen.“
Nein, Tur versucht nicht, das Gespräch zu lenken. Täte er das, stürbe jede Spontaneität. Täte er das, wäre kein echtes Kennenlernen mehr möglich, nur noch Kunstpädagogik. Täte er das, stürbe sein Projekt. Also tut er es nicht. Tur ist ein kluger Mann.
Ein Dutzend Exil-Osnabrücker hat Tur bisher besucht. Und jeder „Ausblick“, der dabei entsteht, wird seinen Weg zurück in die Stadt finden, als Plakat, zum Mitnehmen. Osnabrück sei durch „Ausblicke“ für ihn nicht „einfach nur ein Ort, wo ich mal eine Ausstellung gezeigt habe“, sagt Tur. „Die Stadt ist so zu einem wirklichen Teil meines Lebens geworden.“ Junge wie Alte sind seinem Ruf gefolgt, Menschen vieler Hautfarben, Länder, Bildungsschichten, Überzeugungen.
„Nasan Tur“: bis 15. 11., Osnabrück, Felix-Nussbaum-Haus
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