Umweltaktivist über Lehren aus Corona: „Die Regierung möchte uns töten“
Ailton Krenak ist prominenter indigener Umweltaktivist in Brasilien. Ein Gespräch über Corona, Kolonialismus und Europas blinde Flecken.
taz: Ailton Krenak, wir sind etwa 10.000 Kilometer voneinander entfernt und sprechen uns über Zoom. Wo befinden Sie sich gerade?
Ailton Krenak: Ich bin im südöstlichen brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais in der Region des Flusses Rio Doce. Wir leben auf einem offiziell eingetragenen indigenen Territorium: Es heißt Terra Indígena Krenak, das Indigene Land der Krenak.
Der Fluss ist für seine Artenvielfalt bekannt. 2015 wurde er nach dem Dammbruch einer Eisenerzmine von einer Schlammlawine voller Arsen, Blei, Kupfer und Quecksilber vergiftet.
Der Dammbruch war 400 Kilometer von hier entfernt. Der ganze Fluss ist seitdem in einer Art Koma, aber viele der Menschen, die hier um den Fluss wohnen, scheint das nicht nachhaltig zu stören. Sie beklagen nur ökonomische Verluste.
Können Sie das Gebiet, auf dem Sie leben, beschreiben?
Hier leben 130 Familien auf etwa 4.000 Hektar. Medien vergleichen das gerne mit Fußballfeldern, aber ich finde das komisch, diese Weite ist für uns Menschen ohnehin kaum greifbar. Kennen Sie Mandarinen?
Ja, ist das eine in Ihrer Hand?
Ich schäle mir gerade eine. Lecker, oder? Hier im Garten gibt es Mandarinen, Papayas, Guaven. Man kann hinlaufen und sie sich nehmen, sie gehören allen. Am Anfang des letzten Jahrhunderts gab die Regierung uns dieses Land, nachdem Landwirte sich über die um das Flussgebiet als Nomaden lebenden Indigenen beschwerten. Wir leben hier seit hundert Jahren, in dieser Zeit haben wir durchgehend Angriffe von außen erlebt. In den Dreißigern hat die Regierung hier Gleise gebaut, sie durchkreuzen unser Gebiet.
Seit über zwei Monaten befinden Sie sich in Quarantäne. Wie hat das Ihr Leben verändert?
Die Routine ist anders, ich habe Termine und Reisen abgesagt, aber niemand in unserer Gemeinschaft muss zu Hause bleiben. Zwischen den Häusern liegen teils Kilometer. Es werden weiterhin Kindergeburtstage gefeiert, Essen wird ausgetauscht, aber dabei sind nie mehr als zehn Personen zusammen. Ich würde es eine kollektive Quarantäne nennen.
Welche Bedeutung hat die Pandemie für die Indigenen in Brasilien?
Wir sind sehr verschieden und haben deswegen unterschiedliche Auffassungen. Eine Gemeinsamkeit ist vielleicht, dass wir das Virus als eine Konsequenz des menschlichen Handelns an unserem Planeten sehen. Die Klimaerwärmung, die Ausbeutung. Manche von uns verstehen das Virus auch als eine Strafe, weil die Menschheit die Leben anderer Lebewesen auf der Erde aus dem Gleichgewicht bringt. So, wie nur Menschen die Umwelt bedrohen, bedroht das Virus ja nur Menschen – andere Lebewesen stört es nicht.
Wie geht es den Indigenen, die ohnehin immer in Isolation leben?
Auf die bin ich neidisch! Es wird ihnen gut gehen, solange niemand versucht, mit ihnen in Kontakt zu treten. Viele Indigene werden aber bedroht, Leute dringen illegal in ihre Gebiete ein. Als im April ein 15-jähriger Yanomami an Covid-19 verstorben ist, hat uns das erschreckt, er lebte isoliert in einem schwer zugänglichen Gebiet des Amazonas. Aber diese Vorstellung von Isolation ist nun mal eine, die wir hier draußen von ihnen haben. Wir glauben, sie seien isoliert. Der Junge, der verstorben ist, lebte am Rande des Gebiets der Yanomami, er muss Kontakt mit der Außenwelt gehabt haben.
In der Kolonialzeit brachten Europäer Krankheiten nach Brasilien und löschten so Indigene in ganzen Landstriche aus. Heute gehören Indigene erneut zu den verletzlichsten Bevölkerungsgruppen. Ist die aktuelle Pandemie ein weiteres koloniales Phänomen?
Koloniale Verhältnisse haben immer eine Richtung, ein Machtgefälle. Aber diese Pandemie betrifft uns alle. Sicher, manche Menschen haben mehr Ressourcen, um sich zu schützen. Das Virus trifft also diejenigen besonders stark, die immer schon ausgebeutet wurden, die in Armut leben, kein Land haben oder kein Haus. Trotzdem kann ich es nicht als kolonial bezeichnen, denn das Virus ist in meinen Augen ein Produkt der Menschen in ihrer Gesamtheit – auch ich habe ja dazu beigetragen, dass wir uns in dieser Situation befinden.
(Jahrgang 1953) ist Umweltaktivist und Autor.
Bei der verfassungsgebenden Nationalversammlung 1987 nach dem Ende der brasilianischen Militärdiktatur vertrat Krenak die Indigenen Brasiliens. In den 1980ern war Krenak an der Gründung der União das Nações Indígenas, der Union der Indigenen Nationen, beteiligt. 2016 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Bundesuniversität von Juiz de Fora, Minas Gerais.
2019 erschien sein jüngstes Buch „Ideias para adiar o fim do mundo“ (Ideen, um das Ende der Welt aufzuschieben).
Warum Sie? Meinen Sie das ernst?
Klar, ich bin Teil davon. Auch wenn wir Indigenen eine andere Weltauffassung haben, waren wir bisher zumindest jedenfalls nicht in der Lage, Entscheidungen, die die Welt in diese Situation gebracht haben, zu verhindern.
Sowohl in Deutschland als auch in Brasilien betonen die Regierenden, man müsse wieder zur Normalität zurückkehren. Wünschen Sie sich das auch?
Das, was wir gelebt haben, war keine Normalität. Wir waren dabei, ohne Kontrolle den Planeten zu erhitzen, Ressourcen zu verbrauchen und zu konsumieren. Nun wurden wir gezwungen, abzubremsen. Wie es weitergehen wird, weiß ich nicht. Wer sich aber wünscht, zu dem Zustand davor zurückzukehren, hat nichts gelernt. Ich denke, das Virus ist nicht der Knall, es ist eine Vorwarnung. Wir können jetzt auf der Bombe sitzen bleiben, wir können wegrennen – oder wir lernen, damit umzugehen und uns zu schützen.
Hat die Bedrohung durch das Virus die Menschen weltweit vereint?
Schön wär’s. Ich kann keine gemeinsame Linie finden, die Menschen weltweit derzeit verbindet. Im Gegenteil: Ich sehe viel Egoismus. Wer sich vor dem Virus schützen kann, denkt an sich selbst und wird Interaktionen mit anderen Menschen vermeiden, bis er sich selbst wieder sicher fühlt.
Die Waldbrände des vergangenen Jahres und die reaktionäre Rhetorik des brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro erwecken aus europäischer Sicht den Eindruck, die Lage für Brasiliens Indigene habe sich verschärft. Ist diese Bedrohung wirklich so neu?
Nein, schon in den Siebzigern warnten internationale Berichte, Indigene in Brasilien seien kurz vorm Aussterben. Seitdem haben wir einerseits eine Blütezeit durchlebt: Indigene begannen, Universitäten zu besuchen, öffentliche Räume einzunehmen, wichtige soziale Kämpfe wurden geführt, Territorien anerkannt. Trotzdem haben wir in dieser Zeit viel Gewalt erlebt. Europa hat das nicht bemerkt, weil Europa von der wirtschaftlichen Entwicklung Brasiliens beeindruckt war. Europa hat Brasilien dafür bewundert, dass es so wurde wie es selbst. Dafür, dass es sich in den modernen Kapitalismus eingliederte, Kunde und Produzent wurde. Weil die Statistiken über diese sogenannte Entwicklung hübsch klangen, hat Europa nicht bemerkt, dass wir Indigene seit Jahren harte Zeiten durchlebten. Jetzt haben wir eine Regierung, die uns zum Feind erklärt hat. Wenigstens spielen sie mit offenen Karten: Wir wissen, dass die Regierung uns töten möchte. Das macht sie jeden Tag neu klar.
Sie lachen, während Sie das sagen …
Weil ich nicht fassen kann, dass diese Gesellschaft eine Regierung toleriert, die so etwas offen eingesteht.
Sie sprechen von der Regierung, ohne den Namen des rechtsextremen Präsidenten Jair Bolsonaro zu nennen. Wieso?
Für mich ist das keine individuelle Frage, sondern eine gesamtgesellschaftliche: Wenn eine Gesellschaft Menschen wie den Präsidenten produziert, liegt das an der Gesellschaft. Wir sind alle verantwortlich.
Wie würden Sie das Verhältnis zwischen den Indigenen und der restlichen brasilianischen Gesellschaft beschreiben?
Es gibt da diesen Satz: Alle in Brasilien haben indigenes Blut, entweder in ihren Adern oder an ihren Händen. Das ist eine tief verankerte, historische Konstante. Sehen Sie, selbst für den Bau unserer Hauptstadt Brasília wurden in den Fünfzigern die Karajá und die Xavante aus ihren Gebieten verdrängt. Wir sollten uns nichts einreden: Die Mehrheit der Menschen in Brasilien hasst die Indigenen.
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