Die Wut erreicht Deutschland

Um den getöteten US-Amerikaner George Floyd trauerten am Wochenende auch in deutschen Städten Zehntausende Menschen. Für Unmut sorgte das Verhalten der Polizei

Unter dem Motto „I can’t breathe“ (Ich kann nicht atmen) gingen Menschen in den vergang­enen Tagen unter anderem in Paris (oben links), London (oben rechts), Rom (unten links) und Rotterdam gegen Rassismus auf die Straße Fotos: Francois Mori/ap; Dylan Martinez/reuters; de Waal/dpa; ara Nardi/reuters

Aus München, Hamburg und Berlin Patrick Guyton
, Sarah Zaheer
und Anna Lehmann

München, Königsplatz. Am frühen Nachmittag ist das weite Areal noch mit weiß-roten Plastikbändern abgesperrt. Die Menschen – jung, maskiert und zumeist in schwarzer Kleidung – drängen sich davor. Jireh Emanuel, der Mann auf der Bühne, sagt ins Mikro: „200 Teilnehmer sind für unsere Demons­tration erlaubt. Wir lassen jetzt 200 Leute rein.“ Dass es dabei nicht bleiben wird, ist absehbar bei den schon zu diesem Zeitpunkt Tausenden Menschen, die an dieser „Silent Demo“ teilnehmen wollen. Ausgehend von der brutalen Tötung von George Floyd durch die Polizei im US-amerikanischen Minneapolis, richtet sich die Demonstration in München wie die weltweit vielen anderen gegen rassistische Morde und Rassismus in all seinen Facetten.

Demonstrieren in Zeiten von Corona – eine heikle Sache. Bei diesen vielen Menschen, die sich auf den Weg gemacht haben, ist bald klar: Auf dem Königsplatz kann das ein riesiges, sehr kraftvolles Statement werden. Doch wegen der Pandemie bleibt auch ein Gefühl von Unsicherheit. Von allen Seiten drängen und drücken die vielen weiteren DemonstrantInnen. So beharrlich wie erfolglos ruft Emanuel: „Haltet die Abstände ein, mindestens eine Armlänge.“ Die Polizei reagiert schnell und öffnet alles. Aus den Lautsprechern ertönt nun die Nachricht: „Es gibt keine Absperrung mehr, der ganze Königsplatz ist jetzt frei.“

Tausende saßen oder standen, überwiegend schwarz gekleidet, auf dem Platz und den Zufahrtsstraßen

Rhythmisch klatschen die DemonstrantInnen und rufen an diesem Samstagnachmittag die Worte, die auch auf unzähligen Schildern zu lesen sind: „Black lives matter.“ Jireh Emanuel ist ein bis dahin praktisch unbekannter junger schwarzer Münchner. Nun blickt er von der Bühne auf den Platz, auf die Menschenmenge, so fern das Auge sieht. Er erinnert in seiner Moderation daran, dass an diesem Ort vor 80 Jahren die Nazis regelmäßig ­aufmarschierten. Er sagt: „Wir haben es satt.“ Und er ruft ins Mikrofon: „Jetzt bin ich stolz, ein Münchner zu sein.“ Es war an diesem Tag eine der größten Kundgebungen in ganz Deutschland, die Polizei spricht von 25.000 TeilnehmerInnen. Weiter heißt es im Polizeibericht: „Sie verlief störungsfrei.“

Um 15.13 Uhr wird die „Silent Demo“ tatsächlich still. Die Menschen gehen zu Boden in die Position auf ein Knie – das weltweite Symbol des Protestes gegen die tödliche Gewalt, die George Floyd angetan wurde. Nach den qualvollen Minuten ruft Jireh Emanuel ins Mikrofon: „I cant breathe“ – ich kann nicht atmen. Und die Demonstranten folgen im Chor: „I can’t breathe.“ Es waren die letzten Worte George Floyds, Tausende Fäuste recken sich in den Münchner Himmel.

1.500 Teilnehmer*innen waren für die Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz angemeldet. Doch auch hier kamen viel, viel, viel mehr: mit Kindern, Fahrrädern, Pappschildern, Mützen und meist auch mit Mundschutz. Tausende saßen oder standen, überwiegend schwarz gekleidet, auf dem Platz und den Zufahrtsstraßen. Nach Angaben der Polizei kamen 15.000 Demonstrierende. Beobachter hingegen sprachen von weitaus mehr.

Zeitgleich versammelten sich auch in anderen Städten Tausende Solidarische. Der Frankfurter Römerplatz sei nicht mal eine Stunde nach Beginn der Kundgebung bereits voll gewesen, teilte ein Sprecher der dortigen Polizei mit. In Münster, Leverkusen, Bonn, Köln und Dortmund war das Motto der Demonstrationen – wie auch in München – „Silent Protest“.

In Hamburg auf dem Jungfernstieg knieten Tausende Demonstrierende nieder und gedachten schweigend George Floyds. Dann springen alle auf, klatschen und brüllen „Black lives matter“ und „No justice, no peace“.

Dass die Versammlung wegen der zu hohen Teilnehmerzahl bereits von der Polizei als beendet erklärt wurde, ist nicht zu erkennen. Viele der Teilnehmenden sind sehr jung. Eine 16-Jährige erzählt, dass sie zum ersten Mal auf einer Demons­tration sei. „Ich finde es toll, wie viele Menschen hier ein Zeichen setzen wollen“, sagt sie. Die Sicherheitsabstände sind aufgrund der Menge an Menschen kaum einzuhalten, die meisten tragen einen Mundschutz. Parallel beginnt nur wenige Hundert Meter weiter eine Kundgebung am Rathausmarkt. Redner*innen fordern die Solidarität mit Geflüchteten und allen Menschen, die diskriminiert werden. Neben Gerechtigkeit für Floyd wird auch die Aufarbeitung von rassistischen Taten in Deutschland verlangt.

Die Polizei zählt insgesamt 14.000 Demonstrierende in der Hamburger Innenstadt, erlaubt waren 825. Dennoch hält sie sich zurück, twitterte zu Beginn sogar, man stehe an Seite der Demonstrierenden: „Rassismus darf in unserer Gesellschaft keinen Platz haben“, heißt es im selben Tweet. Dennoch kommt es am Abend zu Ausschreitungen. Während auf dem Rathausmarkt weiter Reden gehalten werden, wird die Polizei von Demonstranten am Jungfernstieg bedrängt und eingekesselt. Nach dem Einsatz von Pfefferspray werden nun auch Flaschen auf die Polizei geworfen, worauf diese mit Wasserwerfern anrückt. Hunderte Menschen rennen in alle Richtungen, auch unter ihnen sind viele Jugendliche, die panisch werden.

Die Beamt*innen versuchen die Demonstrierenden zu zerstreuen. Dabei wurden etwa drei Dutzend am Hamburger Hauptbahnhof in Gewahrsam genommen. Nebenstehende berichten, dass die überwiegend migrantischen Demonstranten sehr jung gewesen seien. Diese hätte die Polizei zweieinhalb Stunden mit erhobenen Händen an der Wand stehen lassen, bis sie von Bussen auf Polizeiwachen gebracht worden seien. Laut Polizeisprecher wurden elf Personen vorläufig festgenommen, weitere 36 habe man in Gewahrsam genommen. Darunter hätten sich ein Kind und 20 Jugendliche befunden.

Auch in Berlin kam es nach Ablauf der offiziellen Demons­tration zu gewalttätigen Übergriffen. Direkt vor dem Bahnhof Alexanderplatz wurden aus einer größeren Gruppe heraus Steine und Flaschen auf Polizist*innen und Passan­t*in­nen geworfen, sagte eine Sprecherin vor Ort. Als die Polizei einen Demonstranten festnahm, eskalierte die Situation. Am Abend gab die Polizei bekannt, 93 Personen seien festgenommen worden. 28 Polizisten seien verletzt worden, hieß es.