„Wir führen die Vorratshaltung ad absurdum“

Alexander Röder, Hauptpastor an der Hamburger Michaliskirche, über die Aktualität der biblischen Dürre-Geschichten und die Frage, wie der Mensch mit dem umgeht, was ihm anvertraut worden ist

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Alexander Röder

60, ist seit 2005 Hauptpastor der Hamburger Hauptkirche St. Michaelis. Zuvor war er Referent für Gottesdienst und Kirchenmusik am Nordelbischen Kirchenamt in Kiel.

Interview Petra Schellen

taz: Her Röder, welches ist die wichtigste Dürre der Bibel?

Alexander Röder: Abgesehen von den Textstellen, an denen „Dürre“ für einen seelischen Zustand steht, ist die wohl wichtigste Dürre-Geschichte die von Josef und seinen Brüdern in ägyptischer Gefangenschaft. Da träumt der Pharao von einer fetten und einer mageren Kuh, und sein Berater Josef erklärt ihm: Das ist die Ankündigung von sieben fetten und sieben dürren Jahren, und wir müssen in den guten Jahren Vorräte anlegen. Daraufhin legt Ägypten große Getreidevorräte an, sodass während der Dürre niemand hungern muss. Dafür braucht man aber eine Regierung, die vorausschauend handelt.

Inwiefern ist der Text kulturhistorisch relevant?

Er zeigt, dass die antiken Völker im Mittelmeerraum längst Vorratshaltung praktizierten, während die germanischen Stämme Europas noch von der Hand in den Mund lebten. Die große Völkerwanderung im dritten und vierten Jahrhundert nach Christus hängt genau damit zusammen: dass harte Winter und trockene Sommer – für die man eben keine Vorräte angelegt hatte – die Menschen zwangen, gen Süden zu wandern. Das ist historisch belegt.

Ist auch die Dürreperiode im Ägypten der Josefs-Geschichte historisch verbürgt?

Ja. Wie bei ihrem Gegenstück, der „Sintflut“, sagen Wissenschaftler heute, dass es diese Dürre gegeben haben muss. Sie war wohl lokal begrenzt, aber für die Menschen mit einer so dramatischen Erinnerung verbunden, dass sie, nach jahrhundertelanger mündlicher Weitergabe, verschriftlicht worden ist.

Auch die Region des historischen Palästina war (und ist) nicht gerade wasserreich.

Allerdings. In der ganzen Region, wo die Bibel entstand – in Judäa, Samaria, Galiläa –, dem Bereich, den wir heute Israel-Palästina nennen, war es überhaupt nicht schön zu leben. Die Bedingungen waren klimatisch eine Katas­trophe, denn dort ist weitgehend Wüste. Die ganze Bibel ist voll davon, dass Wüsten – Symbole für absolute Dürre und Lebensfeindlichkeit – Orte der Dämonen sind. Auch Jesus wird ja in der Wüste von Teufel „versucht“. In psychologische Sprache übersetzt heißt das: Was macht es mit Menschen, unter solchen Bedingungen leben zu müssen?

Andererseits gehörte die Dürre im damaligen Palästina zum normalen Jahreszyklus.

Ja, es gab zwei Regen- und Erntezeiten, im Frühjahr und im Herbst; das jüdische Pessach- und das Laubhüttenfest waren ursprünglich Erntefeste. Dazwischen lag ein extrem heißer, trockener Sommer.

Wie sind die Menschen damit umgegangen?

Gab es eine gute Ernte, legten sie Vorräte an. Aber es gab auch Zeiten, in denen der Frühjahrsregen ausblieb und die Menschen hungerten. Das erwähnen einige Bibeltexte der Propheten Jesaja und Elia. Sie beschreiben, dass die Menschen unter der Dürre schwer leiden, dass der Wein – Symbol für Lebensfreude – nicht mehr wächst. Der Ölbaum trägt keine Früchte, das Getreide verdorrt am Halm.

Wie wurde das gedeutet?

Die Dürre galt als Strafe Gottes für abtrünniges Verhalten. Konkret hatten die Israeliten sich von (dem unsichtbaren) Jahweh abgewandt und stattdessen den Fruchtbarkeitsgöttern der benachbarten Assyrer und Babylonier gehuldigt.

Gilt Dürre in der Bibel auch als Strafe für Fehlverhalten wider die Natur?

Nicht, dass ich wüsste. Einerseits lebten die Völker damals ohnehin stärker im Einklang mit der Natur, andererseits ist die Idee, dass der Mensch der Natur nicht dienen, sondern sie beherrschen soll, erst in der Theologie des 18., 19. Jahrhunderts aufgekommen.

Ist Dürre in der Bibel auch ein Hinweis auf die Endzeit?

Ja. Im Lukas-Evangelium heißt es: Anzeichen für das Vergehen dieser Welt und den Beginn des göttlichen Reichs könnten Unwetter sein, Erdbeben, große Hitze. Und in der „Offenbarung“ des Johannes trocknet am Weltende der Fluss Euphrat aus, der in der Schöpfungsgeschichte als zentrale Wasserader der Welt eingeführt worden war.

Und was bedeutet der biblische ­Topos der Dürre für die neuen Dürren Europas?

Letzten Endes ist die Botschaft, dass der Mensch die Schöpfung nicht macht. Die christliche Theologie sagt dazu: Die Schöpfung kommt von Gott und ist dem Menschen anvertraut. Dabei ist so eigenartig wie bezeichnend, dass sich die Idee des Herrschens über die Schöpfung so durchgesetzt hat. Im Hebräischen steht da nämlich „avat“, und das bedeutet „dienen“. Wir sollen also der Schöpfung dienen, sie funktionsfähig erhalten, weil der Mensch in sie eingebunden ist.

Aber er wurde doch zuletzt geschaffen, als Krönung der Schöpfung.

Das kann man so deuten. Man kann aber auch sagen: Er wurde nach Gezeiten, Pflanzen, Tieren geschaffen, weil er erst existieren kann, wenn ihm die Lebensgrundlage gegeben ist. Und er ist im Vergleich zu den Tieren das schwächste Wesen von allen, extrem angewiesen auf seine Umwelt. Letztlich ist es ja eine Frage der Naturethik: Wie geht der Mensch mit dem um, was ihm anvertraut ist? Geht es nur um Ausbeutung und Gewinnmaximierung oder auch um Rücksicht auf die Natur? Die jüdischen Gesetze in der Bibel gebieten ja nicht ohne Grund eine Drei-Felder-Wirtschaft: Je ein Feld muss ein Jahr brach liegen, um sich zu erholen.

Das gab es auch in Europa.

Ja, vor vielen Jahren. Aber wir haben heute so viel Dünger, der es möglich macht, jedes Jahr eine Ernte einzufahren, dass wir uns darüber hinwegsetzen – mit den bekannten Folgen für Boden und Klima.

Was können wir von den biblischen Völkern über den Umgang mit Dürre lernen?

Eigentlich das Vorrathalten.

Eigentlich?

Ja, denn wir tun es in exzessiver Weise und aus den falschen Motiven. Wir führen es ad absurdum, weil wir zu viele Lebensmittel produzieren – und sie dann großteils vernichten. Dabei gehören dies Nahrungsmittel in den globalen Süden transportiert, wo sie – oftmals wegen einer Dürre! – gebraucht werden.

Hat auch die Josefs-Geschichte eine ethische Botschaft?

Ja. Sie zeigt, wie man es klüger machen kann: in guten Jahren mit Augenmaß Vorräte anlegen, damit man in der Not allen helfen kann. Will sagen: Im Überfluss beschränken sich alle, damit in der Not alle genug haben. Es ist ein sehr soziales Modell, das uns Bescheidenheit lehren kann.