: Ungebetene Zwischenrufe
In der Debatte um muslimische Gebetsrufe in Osnabrück umgeht Oberbürgermeister Griesert im Namen von Corona den Rat. Nun musste er sich für sein Vorgehen entschuldigen
Von Harff-Peter Schönherr
Ohne Covid-19 stünde Imam Mustafa Çito für den Adhān, den Gebetsruf, im Innenraum der Merkez-Moschee in Osnabrück. Seit dem 24. April, seit Beginn des Fastenmonats Ramadan, steht er dafür direkt an der Straße, mit Mikro und Lautsprecher. „Allah ist der Größte, der Erhabenste...“ Fünf Minuten dauert der Ruf, live gepostet auf Facebook.
Die Moschee der Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş ist nicht die einzige der Stadt, die seit diesem Tag den öffentlichen Raum beschallt. Ein halbes Dutzend beteiligt sich, von der Tawba-Moschee, nur ein paar Dutzend Schritte entfernt, bis zur Ibrahim Al-Kahlil-Moschee am Goethering.
„Im Moment sind die Moscheen natürlich wegen der Coronapandemie geschlossen“, sagt ein Gemeindevorsteher von Merkez, der lieber ungenannt bleibt. „Der Ramadan ist aber eine Zeit besonders intensiver Auseinandersetzung mit dem Glauben. Deshalb haben wir bei der Stadt den Antrag gestellt, mit dem Gebetsruf stattdessen in den öffentlichen Raum zu gehen, wie in Duisburg oder Hannover, auch als Zeichen spiritueller Trostspendung in diesen schwierigen Zeiten.“
Das ist jetzt möglich, erstmals in der Geschichte der Stadt, Schalldruckpegel akkurat nach Immissionsschutzgesetz. „Konzertlautstärke hat das natürlich nicht; aber ein bisschen zu hören sein soll es natürlich schon.“ Auch Nicht-Muslime bleiben dann stehen und lauschen. „Daraus entstehen sehr positive Gespräche.“
Aber Osnabrücks öffentliche Gebetsrufe, während des Ramadans einmal täglich zu hören, danach bis zur Aufhebung der Coronabeschränkungen einmal wöchentlich, werfen auch Probleme auf. Und die erschöpfen sich nicht in Statements wie dem der linken studentischen Initiative „Kritik und Intervention“ der Universität Osnabrück, die Outdoor-Rufe seien ein „kulturrelativistischer Kniefall vor der Ideologie des Islam“.
Der Haupteinwand: Die Genehmigung der Stadt ist keine Entscheidung des Rats. Der hatte zwar nur wenige Tage zuvor getagt, am 21. April, das Thema aber nicht auf der Tagesordnung. Volker Bajus, Fraktionschef der Grünen, schrieb daraufhin, „außerordentlich unzufrieden“ mit Kommunikation und politischer Einbindung, Oberbürgermeister Wolfgang Griesert (CDU) einen Offenen Brief: „Für uns Ratsmitglieder ist völlig unklar, auf welcher Rechtsgrundlage diese Entscheidung gefallen ist.“ Es entstehe der Eindruck, „man entscheide im Rathaus hochherrschaftlich im Alleingang“.
Bajus kritisiert nicht die Moscheegemeinden: „Auch wir Grüne“, erläutert er auf Anfrage der taz, „sind für den öffentlichen Gebetsruf“. Der Wunsch der muslimischen Gemeinden sei „verständlich – gerade zu Ramadan“. Aber die Verfahrensfrage sei „hochpolitisch“: Der „Alleingang des OBs“ habe „eine Meinungsbildung leider nicht zugelassen“. Klar, in Krisenzeiten müsse die Verwaltung „auch mal schnell und ohne den Rat entscheiden“ können. Aber „um Leben und Tod“ gehe es hier nicht.
Bajus, interfraktionell nicht der Einzige mit dieser Kritik, geißelt die Intransparenz des Verfahrens zu Recht. Und er munitioniert damit auch eine weit allgemeinere Debatte auf: Corona, zeigt er exemplarisch, rechtfertigt nicht das Aussetzen demokratischer Entscheidungswege.
Mittlerweile hat sich Griesert beim Stadtrat entschuldigt. Doch leider gerät auch Bajus selbst ein wenig ins Wanken. In seinem Offenen Brief wirft er nämlich die Marginalie in die Debatte, „Bedenken wegen der Lärmbelastung“ könne er in Sachen Gebetsruf „gut nachvollziehen“. Ist das Kirchengeläut nicht viel lauter? Ganz zu schweigen vom LKW-Verkehr, der quer durch die Stadt über die B68 donnert?
Fakt ist: Für die sehr lebendige, meist sehr offene muslimische Landschaft der Stadt ist der öffentliche Gebetsruf ein Zeichen der Wertschätzung, auch wenn er den Vorwurf weckt, es sei der Verwaltung, so Bajus, primär „um größtmögliche öffentliche Aufmerksamkeit gegangen“. Die Zustimmung war interfraktionell. Auch der Runde Tisch der Religionen war dafür.
Bleibt die Frage, wie sinnvoll es ist, gerade in Zeiten der Krise die Präsenz des Religiösen zu erhöhen – in einer Gesellschaft, die immer säkularer wird. Bajus hat auch diese Frage gestellt. Aber mit seiner Lärm-Marginalie hat er sie zugleich vom Tisch gewischt.
Und Griesert? „Die Kritiker haben Recht“, sagt er, „und wir bitten um Nachsicht“. Es sei „ein Versehen gewesen, dass die Verwaltung den Rat nicht informiert hat“, zu erklären durch den „hohen Druck, unter dem zurzeit große Teile der Verwaltung arbeiten“, bedingt durch Corona. Zwei Tage nach der Ratssitzung war die Sache durch eine städtische Pressemitteilung ans Licht gekommen. Ziemliches Chaos also. Hoffen wir, dass das nicht auch für Corona selbst gilt.
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