Stadt unter Druck

In seinen Bildern vom sozialen Elend wollte er nichts beschönigen. Der Berliner MalerHugo Krayn stand gerade vor dem Erfolg, als ihn 1919 die Spanische Grippe dahinraffte

Er war ein Chronist der Stadt: Hugo Krayns Bild „Großstadt (Berlin)“ ist im Bestand des Deutschen Historischen Museums Foto: Reproduktion: I. Desnica/Deutsches Historisches Museum

Von Bettina Müller

Zeitgenössische Berichte über Seuchen haben oft etwas Prophetisches an sich. So warnte am 11. August 1918 der Nationalökonom Professor Siegmund Feilbogen gegenüber der Züricher Post vor einer „bisher noch unbekannten, des Weltkrieges würdigen Art des Massentodes“. „Endet den Krieg, bevor ein Pestbazillus ihn endet!“, rief er der Leserschaft zu. Doch Feilbogens Mahnung verhallte ungehört, vor allem in Deutschland, wo seit 1914 die Menschen ja bewusst in den vorzeitigen Tod geschickt wurden von den Machthabern, die nun auch noch die drohende Gefahr einer Pandemie völlig negierten.

Anfang Juli 1918 hatte die Spanische Grippe bereits vor den Toren der Stadt Berlin gelauert. Grob fahrlässig wurde sie von verschiedenen Seiten wie zum Beispiel von einigen Stadtverordneten völlig heruntergespielt. In der Presse wurde zudem von einem „wirklich gutartigen Charakter“ der Krankheit berichtet, die überall einen „leichten“ Verlauf nehme.

Gefahr runtergespielt

Doch die Spanische Grippe hatte mitnichten diesen Charakter. Sie durchbrach den Kordon der Ignoranz und nistete sich zuerst vor allem in den westlichen Vororten Berlins ein. In Anbetracht der Historie Preußens, die eng verknüpft ist mit einer kontinuierlichen Seuchengeschichte, bei der Pest, Cholera und andere Krankheiten immer mal wieder ungezählte Opfer forderten, ist diese ignorante Haltung unverständlich. Sie zeigt aber auch eine Parallele zum Hier und Jetzt, wo das Coronavirus zunächst doch so schön weit weg in China war.

Was hatte man damals aus der Seuchengeschichte gelernt? Nicht viel. „Das ist keine Grippe, kein Frost, keine Phtisis (Auszehrung, d. Red.) – das ist eine deutsche politische Krisis“, reimte Kurt Tucholsky in seinem am 18. Juli 1918 in der Weltbühne erschienenen Gedicht „Spanische Krankheit?“.

Als die Rufe der Ärzteschaft dann doch lauter wurden, dass eine „straffste Zusammenfassung geordneter Kräfte das Gebot der Stunde“ sei, war es schon zu spät. So tobte sich die Spanische Grippe (deren Erreger, das Influenzavirus, erst 1933 entdeckt werden sollte) ungehemmt in Berlin mit insgesamt drei schweren Wellen aus. Sie traf auf eine in Teilen schon durch den Ersten Weltkrieg geschwächte Bevölkerung und auf eine fast vollständig zerbröselte monarchische Obrigkeit, die durch die Ausrufung der Republik am 9. November völlig am Ende war.

Im Zuge der sich anschließenden Tumulte und Machtkämpfe rückte die Pandemie in den Hintergrund und spielte in den Tageszeitungen kaum noch eine Rolle. Das Jahr endete mit schätzungsweise 300.000 Toten in ganz Deutschland.

Abgearbeitete Gesichter

1919 ging das Leiden weiter. Bald fiel auf, dass häufig jüngere Menschen von der Spanischen Grippe dahingerafft wurden oder aber Menschen mit schwacher Konstitution. So wie Hugo Krayn. Der 1885 geborene Maler hatte bereits eine lange Kur hinter sich. Der Künstler, seit 1915 Mitglied der Berliner Sezession, stand da gerade vor dem Durchbruch. Die Stadt Berlin hatte zwei seiner Werke erworben, es sollte ein großer Auftrag an ihn vergeben werden.

Krayn galt als „Darsteller der Arbeit und der kleinen Leute“, der dabei in seinem Innern wohl ein ganz besonderes Gespür für „soziales Elend“ hatte, wie es Karl Schwarz in einer Monografie in der Reihe „Junge Kunst“ beschrieb. Sie ist ein Jahr nach Krayns Tod erschienen und bis jetzt die einzige über den Künstler geblieben.

Es fehlten Tischler für die Särge,die Leichen kamen in Papiersäcke

Dabei fasziniert noch heute, was Krayn aus anscheinend einfachen Motiven wie zum Beispiel dem „Gemüsewagen“ schuf, bei dem der Maler seine Aufmerksamkeit detailreich den Gesichtern der abgearbeiteten Frauen widmete, die an dem Wagen anstehen.

Ohne Beschönigung wollte Hugo Krayn das, was er bei seinen Streifzügen durch die Stadt aufsog, auf die Leinwand bannen. Für viele waren die düsteren Sujets sicherlich rätselhaft: gebeutelte Fabrikarbeiter, müde und abgearbeitete Menschen in der Straßenbahn („In der Elektrischen“), der Blick auf die Hochbahn, während im Hintergrund Fabrikkamine lodern.

Krayn zeichnete „Die Krüppelstadt“ oder „Der Blinde“. Und hätte er die Spanische Grippe überlebt, hätte er auf seinen Streifzügen mehr hungernde Menschen gesehen, Kriegsinvaliden und Straßenbahnen, die zum Transport der Särge umfunktioniert worden waren. Er wäre an überfüllten Krankenhäusern vorbeigegangen, hätte die Leichen gesehen, die man gerade in Papiersäcken beerdigen wollte, weil es an Tischlern für die Särge fehlte. Aber es kam nicht mehr dazu, dass er der Chronist solcher bedrückenden Szenen geworden wäre – am 25. Januar 1919 starb er mit nur 33 Jahren nach einem fünftägigen Krankenlager an der Spanischen Grippe. Er ruht heute mehr oder weniger vergessen auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee.

Zwischen 1918 und 1920 forderte die Spanische Grippe weltweit zwischen 27 Millionen und 50 Millionen Menschenleben. Diejenigen, die den Krieg und die Pandemie überlebt hatten, waren zwar nun gegen Viren immun, aber nicht unbedingt gegen Krieg.

Das neue Jahrzehnt brachte einen neuen Spirit in die Hauptstadt, die Spanische Grippe war schnell vergessen, man stürzte sich in die wilden Zwanziger. Es wäre spannend gewesen zu schauen, was der Künstler Hugo Krayn daraus gemacht hätte. Aber selbst von dem, was er tatsächlich gemalt hat, ist nicht viel erhalten. Ein großer Teil seiner Arbeiten ging bei einem Fliegerangriff auf Berlin verloren.