: Flüchtlinge verzweifeln in Seenot
Wegen Corona haben Malta und Italien Rettungsaktionen eingestellt. Über Ostern trieben Hunderte auf dem Mittelmeer
Von Christian Jakob
Hunderte solcher Dramen haben sich in den vergangenen Jahren auf dem Mittelmeer abgespielt. Aber wohl nie konnte die Öffentlichkeit ihnen so direkt beiwohnen wie am Osterwochenende. Mindestens vier Flüchtlingsboote mit rund 250 Menschen sind seit Karfreitag in Seenot geraten. Bis zum Mittag des Ostermontags wurden keine staatlichen Rettungsmaßnahmen eingeleitet.
Tagelang stand die Initiative Alarm Phone über Satellitentelefon mit den Schiffbrüchigen in Kontakt – und stellte in Echtzeit erschütternde Mitschriften und Tonaufnahmen der Gespräche mit den Verzweifelten ins Netz. „Wir sind nicht okay, ich bin schwanger, mein Kind ist krank, niemand kommt zu helfen, wir haben zwei Tote an Bord“, sagt darauf eine Frau. Ihr Boot hatte rund 60 Stunden zuvor einen ersten Notruf abgesetzt.
„Wir sind so müde, die Situation ist die Hölle“, sagte ein anderer Schiffbrüchiger per Telefon dem Alarm Phone. Ihr Boot laufe voll. „Es gibt weder Wasser noch Nahrung. Einige Menschen haben das Bewusstsein verloren. Wir werden sterben.“ Drei der vier Boote befanden sich den Positionsdaten der Satellitentelefone zufolge in der maltesischen Rettungszone.
Ab Sonntag brach der Kontakt zu drei Booten ab. Die Unglücksstelle des vierten Bootes, mit 47 Menschen, erreichte am Montagmittag das Schiff „Aita Mari“ der spanischen NGO Salvamento Maritimo Humanitario.
Ein Boot mit 85 Menschen ist möglicherweise gesunken, sagte am Sonntag eine Sprecherin des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR. „Wir sind sehr besorgt.“ Die EU-Grenzschutzagentur Frontex teilte mit, sie habe bereits nach dem Boot gesucht. Ein Frontex-Flugzeug werde die Suche am Montag fortsetzen.
Ein Schlauchboot mit 101 Flüchtlingen aus Libyen erreichte am Sonntag aus eigener Kraft den Hafen von Pozzallo. Die Menschen wurden in der Stadt Ragusa in Quarantäne gebracht. Es ist äußerst ungewöhnlich, dass ein derart untermotorisiertes Boot die fast 500 Kilometer lange Strecke schafft – und dabei auch noch von der maltesischen Küstenwache unbemerkt bleibt.
Malta hatte am Donnerstag angekündigt, wegen der Coronapandemie vorerst keine Rettungen im Mittelmeer durchzuführen. Die Regierung sagte, sie könne keinen Migranten mehr helfen, die von Afrika nach Europa übersetzen. Polizei und Militär konzentrierten ihre Ressourcen auf die Bekämpfung von SARS-CoV-2. Zudem gebe es keinen sicheren Ort auf maltesischem Territorium für Immigranten auf Booten oder Schiffen.
Am Abend des 7. April hatte das italienische Innenministerium erklärt, dass Rettungsschiffe mit aus Seenot geretteten Flüchtlingen an Bord nicht mehr in italienischen Häfen anlegen dürfen. Die wegen der Coronakrise leidenden Bürger dürften nicht der Grund dafür sein, „jenen Hilfe zu verwehren, die nicht Gefahr laufen, in einem Intensivbett zu ersticken, sondern zu ertrinken“, heißt es dazu in einer gemeinsamen Erklärung der Organisationen Ärzte ohne Grenzen, SOS Méditerranée, Sea Watch und Open Arms.
Aus den Alarm-Phone-Aufnahmen
Insgesamt, so das Alarm Phone, hätten in den vergangenen sieben Tagen über 1.000 Menschen versucht, mit Booten aus Libyen zu fliehen. Europa benutze Covid-19 als Ausrede, um nicht mehr zu retten, heißt es in einer Erklärung von Alarm Phone. „Seuchenschutzmaßnahmen, die im Namen der „Rettung von Leben“ angeordnet würden, hätten den gegenteiligen Effekt: Menschen seien „ernsthaft gefährdet, in Seenot zu sterben“.
Unterdessen wandte sich Papst Franziskus in einem Schreiben an italienische Seenotretter und sagte seine Unterstützung zu. „Danke für alles, was ihr tut. Ich möchte euch sagen, dass ich immer bereit bin, euch zu helfen. Zählt auf mich“, zitierte die deutsche NGO Sea Eye aus dem Schreiben.
Deren Rettungsschiff „Alan Kurdi“ hatte bereits am vergangenen Montag knapp 150 Menschen im Mittelmeer gerettet und war seither auf der Suche nach einem Hafen für diese. Am Sonntagmittag teilte das italienische Verkehrsministerium mit, die Geretteten sollen „in den nächsten Stunden“ auf ein anderes Schiff verlegt, untersucht und dort vorerst unter Quarantäne gestellt werden.
Doch bis Montagmittag geschah nichts. „Wir haben von den italienischen Behörden keine Informationen bekommen“, sagte Sea-Eye-Sprecher Julian Pahlke der taz. Die „Alan Kurdi“ liege außerhalb italienischer Hoheitsgewässer in der Nähe der Stadt Trapani und dürfe keinen italienischen Hafen anfahren. Ohnehin war offen geblieben, wo die Menschen letztlich an Land gehen können. Italien sieht Deutschland als Flaggenstaat der „Alan Kurdi“ der Pflicht.
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