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Wenn Nachbarn helfen

In Bremen, Hannover und Lüneburg vernetzen sich freiwillige Corona-Helfer*innen über den Messenger-Dienst Telegram. Entsteht hier eine soziale Bewegung wie bei der Flüchtlingshilfe vor fünf Jahren?

Kochen für Bedürftige und Helfer*innen: Peter Goldmann (rechts) und Vincenzo Luigi Luggeri vom Restaurant „Little Italy“ in Göttingen Foto: Swen Pförtner/dpa

Von Dominika Vetter

Eine Welle der Solidarität scheint durchs Land zu rollen. Der Hashtag #Nachbarschaftschallenge fordert Menschen auf, zu helfen. Kirchliche Träger richten Hotlines ein, sogar die Junge Union bietet eine eigene Nachbarschaftshilfe an. In Hannover, Lüneburg, Bremen und vielen anderen Städten organisieren sich oft junge Menschen in Telegram-Gruppen, um denen zu helfen, die coronabedingt in Schwierigkeiten geraten.

In Lüneburg vermittelten die über 500 Helfer*innen der Gruppe „Lüneburg solidarisch gegen Corona“ bisher vor allem Kinderbetreuung und Mitfahrgelegenheiten. Die Gruppe „Soli Statt Hamster“ aus Hannover hat fast 1.500 Mitglieder, insgesamt hat sie über 3.500 Hilfsbereite registriert. „Die Bereitschaft der Helfer*innen und das Wachstum der Gruppe sind enorm und haben uns Organisator*innen überwältigt“, sagt Jonas Negenborn aus Hannover.

Die Telegram-Gruppe „Einkaufshilfe Bremen“ hat nach drei Wochen knapp über 1.100 Mitglieder, die Stärke der untergeordneten Stadtteilgruppen variiert dann gewaltig: In der Neustadt sind über 280 Menschen aktiv, in Lesum zwölf. Es gibt parallele Chats, in denen Themen diskutiert werden, die den Hauptchat blockieren würden, weil sie so viel Redebedarf auslösen. In einem Chat wird die Instandhaltung eines Gabenzauns besprochen, an dem Tüten mit Lebensmitteln und Hygieneartikel aufgehängt werden: frei zugänglich für Obdachlose.

So wird es auch in den Gruppen in Lüneburg und Hannover gehandhabt, die Organisationsstrukturen sind sich insgesamt erstaunlich ähnlich. Einige können auf bereits bestehende Netzwerke zurückgreifen. Die Lüneburger Telegram-Gruppe etwa ist von den Leuten mitgegründet worden, die hinter dem Modellprojekt „Lebendiges Lüneburg“ stehen. Die Initiative, die sich seit etwa einem Jahr für einen ökosozialen Wandel und die Vernetzung lokaler Akteur*innen engagiert, beratschlagte sich in einer Videokonferenz, wie man sich in der Corona-Notlage einbringen könnte. „Wir haben mitbekommen, dass es in anderen Städten bereits Telegram-Gruppen gibt und haben das dann übernommen“, sagt Felix Englisch, Student und Mitbegründer von „Lebendiges Lüneburg“.

Laut Politikwissenschaftlerin Clara van den Berg ist die erhöhte Hilfsbereitschaft erwartbar. „Es gibt Studien, die vermuten lassen, dass es in Krisen einen Anstieg an Engagement gibt“, sagt sie. Die Menschen hätten den Eindruck, sie befänden sich alle in der gleichen Situation.

Van den Berg forscht in einem Verbundprojekt mit Kolleg*innen aus Berlin und Osnabrück zu den Helfer*innenkreisen, die 2015 im langen Sommer der Migration entstanden. Sie will herausfinden, ob aus den ehrenamtlichen Hilfen von damals nachhaltige Netzwerke geworden sind. „Wir gehen davon aus, dass die Zivilgesellschaft sich grundlegend verändert“, sagt sie. Menschen organisierten sich nicht mehr vorrangig in Vereinen, sondern in anderen Zusammenschlüssen. „Unsere Frage ist, ob sogenannte ‚Krisen‘ den Wandel beschleunigen und wie sie sich nachhaltig auf die Entwicklung des zivilgesellschaftlichen Engagements auswirken“, sagt die wissenschaftliche Mitarbeiterin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung.

Die aktuellen Solidaritätsinitiativen seien noch keine soziale Bewegung, sagt van den Berg. Denn es gehe ihnen nicht primär um gesellschaftlichen Wandel. „Das kann sich ändern, aber momentan geht es um bedarfsorientierte Hilfe.“

Ein weiteres Kriterium für eine soziale Bewegung sei, dass sie als kollektiver Akteur auftrete, dass also die lokalen Gruppen sich untereinander vernetzen und gemeinsam konkrete gesellschaftlichen Veränderungen verfolgen. Diesen Prozess könne man beispielsweise bei „Fridays For Future“ verfolgen, deren gemeinsames Ziel es sei, den Klimawandel zu stoppen. Eine derartige Vernetzung und Zielsetzung gebe es bei den spontanen Hilfsinitiativen momentan nicht.

Die Telegram-Gruppen agieren tatsächlich getrennt voneinander, doch ihre Chat-Diskussionen ähneln sich. „Wir sind momentan dabei, unsere Struktur noch einmal ein wenig zu überarbeiten, um direkter auf die Leute zuzugehen“, sagt Mirka Lenz, die seit knapp drei Wochen täglich für die Solidarische Nachbarschaftshilfe Bremen aktiv ist. Und in Hannover hält Jonas Negenborn es für wichtig, dass die Hilfsbereitschaft aus dem digitalen in den analogen Raum getragen wird. „Die Bekanntmachung des Solidarischen Netzwerks außerhalb des Internets ist eine große Aufgabe“, sagt er. Der Erfolg der Ini­tiative sei davon in gewissem Maße abhängig.

Die Gruppe aus Hannover weist aber auch auf die Grenzen des Konzepts der Nachbarschaftshilfe hin: Es gebe Menschen, die zwar Hilfe benötigten, diese aber nicht über ein Hilfeformular anfragen könnten und die „außerhalb des öffentlichen Blickes stehen“. Gemeint sind Obdachlose, Geflüchtete in Unterkünften und Sexarbeiter*innen.

„Wir gehen davon aus, dass Gesellschaften mit einer hohen sozialen Vernetzung demokratischer funktionieren“

Clara van den Berg, Politikwissenschaftlerin

Die Bremer Kulturwissenschaftlerin Silke Betscher versteht, wovon hier die Rede ist: „Wir dürfen Nachbarschaft nicht als kleines ‚Wir‘ denken“, sagt sie. Der Begriff „Nachbarschaft“ berge die Gefahr, bestimmte Menschen auszuschließen, die wir nicht als Teil unseres Umfeldes wahrnähmen. „Durch staatlich verordnete sozial-räumliche Exklusion wie die Unterbringung von Geflüchteten in städtischen Randgebieten fallen diese Menschen aus dem Begriff der Nachbarschaft heraus.“

Betscher verweist auf die Erstaufnahmeunterkunft Lindenstraße in Bremen, in der momentan 700 Geflüchtete auf engstem Raum zusammenleben. Sie seien durch die erzwungene Massenunterbringung deutlich gefährdeter als die meisten anderen.

Die Kulturwissenschaftlerin ist der Frage nach der Unterbringung von Geflüchteten schon 2015 bei ihrer Feldforschung auf Sylt begegnet – und sie weiß, dass es auch anders geht. „Die Menschen auf Sylt entschieden sich von Anfang an gegen Massenunterbringungen.“ Stattdessen seien Wohnungen in den Ortschaften angemietet worden.

Der Begriff „Nachbarschaftshilfe“ habe im gegenwärtigen Kontext jedoch auch Potenzial, meint Betscher: Er sei niedrigschwellig, viele könnten etwas damit anfangen. Das ermögliche Menschen ein solidarisches Handeln, die sich bisher nie organisiert hätten. „Und es macht es den Menschen leichter, die sonst Fremde nicht um Hilfe bitten würden.“

Die Nachbarschaftshilfe verbindet in der Krisenlage Menschen, die sonst nicht in Kontakt gekommen wären. In ihrer Feldforschung kam Betscher zu dem Schluss, dass die Lust an der Improvisation dabei eine große Rolle spielt: „Das ist ein Schlüsselmoment, darüber fand 2015 viel Vergemeinschaftung auf Seiten der Bevölkerung statt.“

Gleichzeitig waren es aber auch die Behörden, die umfangreich improvisiert hätten. Hier sei deutlich geworden, das Improvisation auch immer eine machtgeprägte Praxis sei. Wer darf sich ausprobieren, wer darf keine Fehler machen? Wer hat die Kapazitäten zu improvisieren? „Improvisation in diesem Kontext ist eine komplexe Geschichte,“ sagt die Kulturwissenschaftlerin.

Doch sind die Erfahrungen mit der Migrationsbewegung von 2015 auf die jetzige Situation übertragbar? Clara van den Berg ist eher vorsichtig: „In beiden Situationen gibt es eine Aktivierung der Zivilgesellschaft.“ Sie könne aber nicht sagen, ob die jetzige Aktivierung genauso weitreichend und groß sei wie 2015.

Wie im Flüchtlingssommer 2015: Kleiderkammer in einer Hamburger Kneipe Foto: Christian Charisius/dpa

Van den Berg interessieren zivilgesellschaftliche Initiativen aus einem bestimmten Grund: „Wir gehen davon aus, dass Gesellschaften mit einer hohen sozialen Vernetzung demokratischer funktionieren“, sagt sie. Man spricht dann auch von einem hohen Sozialkapital. Genau das untersucht van den Berg aktuell: Ob die Helfer*innennetzwerke von 2015 zu einem höheren Sozialkapital geführt haben.

Noch ist die Anzahl der Hilfsanfragen bei den Telegram-Gruppen im Norden überschaubar. Doch immerhin haben es die Solidaritätsinitiativen innerhalb kürzester Zeit geschafft, mehrere Hundert Menschen zu mobilisieren, ihre Flyer in viele Sprachen zu übersetzen, mehrsprachige Telefondienste einzurichten, also: Menschen eine Anlaufstelle zu bieten.

Silke Betscher sagt: „Es hat auf jeden Fall einen Effekt, auch wenn vielleicht gar nicht so viele Menschen die Hilfe in Anspruch nehmen.“ Es sei ein produktiver Moment, der zum Ausdruck bringe, das Menschen handeln wollten und bereit seien, darüber zu reden, wie mit der Situation am besten und solidarisch umzugehen sei.

Die Gruppe in Hannover vermittelt mittlerweile auch in Notlagen, die nicht direkt mit Corona in Verbindung stehen. „Die Stadt verweist Ratsuchende an unser Telefon, es rufen Mitarbeiter an und fragen, ob sie unsere Nummer online veröffentlichen dürfen“, sagt Jonas Negenborn von „Soli Statt Hamster“.

In einem Fall habe eine alte Frau angerufen, die Hilfe dabei benötigte, den Nachlass ihres verstorbenen Bruders aus dessen Pflegeheim zu holen. „Das hat über Ecken auch etwas mit der Situation in den Pflegeheimen zu tun“, sagt Negenborn. Die Frau hätte jedoch auch unter normalen Umständen Hilfe benötigt.

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