: Das Problem des Wie und des Wann
Die anfängliche Kritik an dem Theaterstück „Überleben“ ist bei manchen der Mitwirkung an dem Projekt gewichen
Von Marthe Ruddat
Es war eine Woche, bevor der Prozess gegen den ehemaligen Krankenpfleger Niels Högel Ende Oktober 2018 starten sollte, da kündigte das Theaterkollektiv Werkgruppe2 an, den Prozess begleiten und am Oldenburger Staatstheater ein Stück inszenieren zu wollen. Angehörige kritisierten das Vorhaben. Der Oldenburger Polizeipräsident äußerte Zweifel und befürchtete, dass dem Täter eine Plattform gegeben würde. Und dass man über den Sinn eines solchen Stückes streiten könne, fand der Vorsitzende Richter Sebastian Bührmann. „Glücklich ist der Zeitpunkt, in dem das bekannt geworden ist, keinesfalls“, sagte er zum Prozessauftakt. Da hatte sich der Intendant des Staatstheaters schon entschuldigt, dass vorher kein Kontakt zu den Angehörigen aufgenommen wurde.
Den Macher*innen war wichtig, ihr Vorhaben eben genau vor Prozessbeginn öffentlich zu machen. „Wir wollten einfach nicht, dass sich die Menschen wundern, warum Schauspieler vom Staatstheater im Publikum sitzen“, sagt Regisseurin Julia Roesler heute. „An den Reaktionen ist uns klar geworden, dass wenigen Leuten klar war, was Dokumentartheater eigentlich ist.“ Es hätten sich viele Menschen geäußert, weil sie dachten zu wissen, was das sei. Dass der Fokus nicht auf Högel, sondern auf die Betroffenen gerichtet wird, sei von Anfang an klar gewesen.
Und so einhellig, wie damals dargestellt, sei die Kritik auch nicht gewesen, sagt Roesler. „Es haben uns auch gleich nach der Bekanntgabe Menschen kontaktiert, die mit uns sprechen wollten, weil sie sagten, dass ihnen sonst niemand zuhört.“ Mit Kritiker*innen führte die Gruppe viele Gespräche, ihre Einstellung habe sich dann rasch geändert, sagt Roesler. Viele Angehörige und Betroffene wirkten mit. Ein Beispiel dafür ist Christian Marbach, dessen Großvater von Högel getötet wurde. Er kritisierte das Theaterstück anfangs heftig und arbeitete am Ende mit.
Gaby Lübben, die im Prozess gegen Högel dutzende Nebenkäger*innen vertrat, ist weiterhin skeptisch. „Die Strafverfahren sind noch nicht abgeschlossen“, sagte sie der Deutschen Presse-Agentur. Högel wurde im Juni 2019 wegen 85-fachen Mordes an Patient*innen zwar verurteilt. Das Urteil ist aber nicht rechtskräftig, weil er Revision eingelegt hat. Außerdem wird noch gegen einige seiner ehemaligen Kolleg*innen und Vorgesetzten ermittelt, einige sind bereits angeklagt.
„Das, was wir tun, kann nicht juristisch relevant sein“, sagt Roesler dazu. Högels Taten lägen außerdem schon bis zu 20 Jahre zurück. Manche Angehörige lebten schon lange mit dem Gefühl, dass da irgendetwas nicht stimmte. „Für die ist es irgendwann auch zu spät“, sagt Roesler. „Die fühlen sich seit Jahren nicht gehört.“
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