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„Rechtsextreme errichten Checkpoints“

Der grüne Europaabgeordnete Erik Marquardt ist auf der griechischen Insel Lesbos. Er schildert dramatische Szenen

Foto: Erik Marquardt

Erik

Marquardt

ist Europa­abgeordneter der Grünen und Fotograf. Der 32-Jäh­rige beschäftigt sich seit Jahren mit europäischer Flüchtlings­politik und reist immer wieder an die Außengrenzen der EU.

Interview Ulrich Schulte

taz: Herr Marquardt, wie ist die Lage auf Lesbos?

Erik Marquardt: Die Lage auf Lesbos spitzt sich zu. Am Montagmorgen ist vor der Insel ein Kind ertrunken, weil 48 Geflüchtete auf einem Boot in Seenot gerieten. Das hat die griechische Küstenwache bestätigt. Es wird aber schwieriger, an Informationen zu kommen.

Warum ist das so?

Rechtsextreme haben auf der ganzen Insel Checkpoints errichtet. Sie greifen JournalistInnen und MitarbeiterInnen von Hilfsorganisa­tionen an – und auch Geflüchtete. Entsprechend telefoniere ich hier schon den ganzen Vormittag herum: Wo kann man noch entlangfahren? Wo ist es gefährlich?

Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?

Unser Bewegungsspielraum ist sehr eingeschränkt. Man kommt hier schnell in gefährliche Situationen. Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen trauen sich nicht mehr, Interviews zu geben, weil sie Angst haben, nachts Besuch zu bekommen. Dabei wären geprüfte Informationen von JournalistInnen wichtiger denn je: Sowohl die türkische als auch die griechische Seite machen ja im Moment Propaganda.

Was heißt das für die Geflüchteten?

Ihre Lage wird noch unsicherer, als sie eh schon ist. Ein Beispiel: Camp Moria ist das zentrale Aufnahmelager auf Lesbos. Hier leben 20.000 Menschen unter schlimmsten Bedingungen. Sie saßen heute ohne Hilfe da, weil sich MitarbeiterInnen der Hilfsorganisationen nicht mehr raustrauten und lieber zu Hause blieben. Auch die Straßen von und nach ­Moria sind blockiert.

Wie verhält sich die Polizei?

Sie lässt die Geflüchteten mit den rechten Mobs allein. Die Polizei sieht oft tatenlos zu, ist aber auch heillos überfordert. Es sind ja nicht nur Rechtsextreme unterwegs. Auch normale Leute schließen sich den Protesten an. Ich kann die Wut der Menschen auch verstehen. Die EU hat die Inseln jahrelang mit der Situation alleingelassen, das war unverantwortlich. Aber das darf keine Legitimation für Gewalt sein.

Sind Sie in brenzlige Situationen geraten?

Am Sonntag gab es eine heikle Szene. Wir wurden von Anwohnern angerempelt und beschimpft, weil wir Fotos von einem Flüchtlingsboot gemacht hatten. Die Polizei nahm daraufhin uns mit auf die Wache, nicht die aggressiven Rempler – und wies uns an, nicht mehr an die Strände zu gehen.

Warum wollen Sie vorerst bleiben?

Ich habe das Gefühl, hier etwas bewirken zu können. Es ist wichtig, den Kontakt zu Behörden nicht abreißen zu lassen. Neutrale Beobachter sind in solchen Situationen wichtig. Ich achte darauf, mich nicht in Gefahr zu begeben.

Wie bewerten Sie das Verhalten der griechischen Regierung?

Die griechische Regierung eskaliert die Situation auf eine unverantwortliche Art und Weise. Sie tut so, als befände sie sich im Kriegszustand. Man sieht im Fernsehen, wie das Militär Truppenübungen an der Grenze abhält. Panzer fahren, Soldaten werfen sich mit Maschinengewehren in den Dreck. Türkische Behörden haben Sky News ein Video zugespielt, das das gewalttätige Vorgehen der griechischen Küstenwache gegen Geflüchtete zeigen soll. Ein Schiff rauscht darauf gefährlich nah an einem voll besetzten Schlauchboot vorbei. Leider ist zu befürchten, dass es kein Fake ist.

Griechenlands Regierung hat erklärt, dass Asylrecht werde einen Monat lang ausgesetzt. Was halten Sie davon?

Das ist eine Bankrotterklärung. Um zu prüfen, ob jemand ein Recht auf Asyl hat oder nicht, gibt es geordnete Verfahren. Die Regierung behauptet nun pauschal, dass alle Geflüchteten keinen Schutz brauchen. Das ist eine Argumentationslinie der extremen Rechten.

Wie geht die EU mit der Krise um?

Die RegierungschefInnen der EU agieren naiv. Es war Erdoğans Ziel, eine krisenhafte Stimmung zu erzeugen. Die EU tut ihm den Gefallen, das zuzulassen. Ich habe das Gefühl, die Staatschefs schlittern in eine Situation hinein, in der sie das Leben vieler Menschen aufs Spiel setzen. Wir brauchen rechtsstaatliche Verfahren und einen europäischen Verteilmechanismus für Geflüchtete. Die EU-Staaten, die helfen wollen, müssen vorangehen.