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Leben im Kollektiv

Am Dienstag wurde im Literaturhaus Fasanenstraße die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift „Politisch Schreiben – Anmerkungen zum Literaturbetrieb“ vorgestellt. Es geht ihr um den Status quo des Verlagswesens und die Auswahlverfahren von Literaturpreisen

Von Julia Wasenmüller

„Wovon wir ausgehen: Es gibt keine Frauen- und Minderheitenliteratur. Frauen- und Minderheitenliteratur müssen wir fördern“, steht im Selbstverständnis der Zeitschrift PS: Politisch Schreiben – Anmerkungen zum Literaturbetrieb. Und weiter: „Der Literaturbetrieb ist kein neutrales System. Es bedarf einer Analyse. Wir fragen: Wer sagt was und was sagt wer.“

Am Dienstagabend wurde im Literaturhaus Berlin die Release-Party der fünften Ausgabe der jährlich erscheinenden Zeitschrift unter dem Titel „Total Eclipse of our Hearts“ gefeiert. Dass im Literaturbetrieb noch lange nicht alles gut ist, aber sich doch einiges verbessert hat, wird an diesem Abend deutlich. Der Ort: Eine alte Villa in einer Seitenstraße vom Ku’damm, ein Türbogen mit symmetrischen Blumenmosaiken, ein Café mit sehr weißen steifen Tischdecken und Espresso für drei Euro. Aber dann sitzen auf der Bühne die PS-Redaktionsmitglieder Kaśka Bryla, Eva Schörkhuber, Yael Inokai sowie die Autorin Ariane Razavi und sprechen darüber, wie sie versuchen, den Ausschlüssen und der Konkurrenz im Literaturbetrieb eine Alternative entgegenzusetzen.

In der PS stehen etablierte Schriftsteller*innen neben Autor*innen, die sich am Anfang ihrer literarischen Karriere befinden. „Es geht vor allem um die Haltung der Schreibenden, ihre Positionierung und damit ihre spezielle Perspektive auf gesellschaftliche Verhältnisse“, erklärt Yael Inokai. Beim Auswahlverfahren werden die Texte und Viten der Autor*innen daher unabhängig voneinander gelesen. „Wir fragen uns: Welches Potential sehen wir in den Texten? Aber auch, wer passt in unser Netzwerk und wie sehr kann diese Person eine Veröffentlichung gebrauchen?“ Die Ausschreibung richtet sich explizit an Menschen, deren Lebensrealitäten selten Eingang in die Literatur finden und wenn, dann nur unter dem Label der „Migrant*innen-“ oder „Betroffenheitsliteratur“, weil es dafür gerade einen Markt gibt.

„Den Widerspruch mit der ‚Frauen- und Minderheitenliteratur‘ aus unserem Selbstverständnis, hat die afroamerikanische Dichterin Pat Parkers schon in den 70ern aufgezeigt, als sie gesagt hat: ‚The first thing you do is to forget that I’m black. Second, you must never forget that I’m black.‘“ Kaśka Bryla ist ein PS-Redaktionsmitglied der ersten Stunde und außerdem bei kanak attak leipzig aktiv. Nach der Veranstaltung hat sie ein Glas Sekt in der Hand und beschreibt ihren Zugang zu Literatur und dem damit verbundenen Business: „Ich verweigere das Schreiben zu sogenannten ‚migrantischen Themen‘. Ich bin peinlich genau damit, wie und wann ich darüber spreche. Gleichzeitig ist es meine Lebensrealität, die ich nicht ausblenden kann. In dem was ich schreibe, versuche ich, ‚das Andere zum Allgemeinen‘ zu machen. Ich will nicht akzeptieren, dass das ‚Allgemeine‘ so wie es präsentiert wird, das Allgemeine bleibt.“

Dass Saša Stanišić den Deutschen Buchpreis gewonnen hat, empfindet Bryla als Erfolg, auch wenn sie sonst nicht viel von Preisen hält. „Wenn man sich anschaut, wer in den Auswahlkommissionen von Stipendien und den Jurys von Literaturpreisen sitzt, merkt man, dass es noch lange dauern wird, bis sich etwas Grundlegendes verändert. Es wird immer noch davon ausgegangen, dass es objektive Gütekriterien für Literatur gibt.“

Die Titel der bisherigen PS-Ausgaben beschreiben, woran man sich in der Kulturszene stören kann: „Konkurrenz und Kanon“, „Genie wider Kollektiv“, „Imagination Krise Wirklichkeit“, „alter“ und im Herbst 2019 plötzlich: „Total Eclipse of our Hearts“.

Die Zeitschrift möchte den Ausschlüssen und der Konkurrenz im Literaturbetrieb eine Alternative entgegensetzen

Im Editorial dieser Ausgabe bezieht sich das Redaktionskollektiv auf Audrey Lordes Essay „The Master’s Tools Will Never Dismantle the Master’s House“. „Die PS soll mehr sein als ein Forum für Kritik am Status quo. Wir wollen auch die Möglichkeit einer anderen literarischen Praxis sichtbar machen“, erklärt Eva Schörkhuber. ­Indem Netzwerke und Kontakte sowie Infos zu Schreib­stipendien geteilt werden, soll die Konkurrenz im Business abgebaut werden. Außerdem legt die Redaktion Wert auf ein intensives und persönliches Lektorat – unabhängig, ob ein*e Autor*in Deutsch als Erstsprache hat oder nicht. Anstelle eines Honorars bietet die PS Zugang zu einem Autor*innen-Netzwerk, das sich über den deutschsprachigen Raum erstreckt. Zu „Arm aber sexy“-Künstler*innen heißt es dennoch im Selbstverständnis: „Literatur ist Arbeit. Wir wollen nicht die russischen Pipelines anzapfen müssen, um es am Schreibtisch warm zu haben.“

Wenn man durch die PS blättert, muss man das Heft, das mit über 200 Seiten eigentlich mehr ein Buch ist, immer wieder vom Hoch- ins Querformat drehen. Formal ist es ein Mix aus Essays, Prosa, Lyrik, Dramen und viel dazwischen. Das Kollektiv ad-hoc schafft und bespielt das Genre der „Lohnarbeiterinnenlyrik“. Autor*innen lassen Worte in verschiedenen Sprachen und Schriften stehen.

Mittlerweile hat sich in Leipzig ein weiteres Literaturkollektiv gegründet, das sich in Agenda und Namen an PS anlehnt: Die „PMS – Postmigrantische Störung“. „Der Anklang, den PS und PMS finden, zeigen den Wunsch nach einer anderen Richtung. Ich kann mir ein Leben als Autorin ohne Kollektiv gar nicht mehr vorstellen, das ist einfach zu hart“, schließt Bryla, bevor sie sich im Foyer des Literaturhauses ein Stück Sahnetorte holt.

www.politischschreiben.net

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