SPD runter, Giffey rauf

Bundesfamilienministerin Franziska Giffey will Landeschefin der Berliner SPD werden. Damit ist für sie der Weg als Spitzenkandidatin für die Berliner Abgeordnetenhauswahl 2021 frei. Aber passt sie überhaupt zu Berlin? Oder will sie am Ende gar Kanzlerin werden?

Sieht so ein kometenhafter Aufstieg aus? Foto: Sean Gallup/getty

Aus Berlin Patricia Hecht und Uwe Rada

Und schon hat sie ihm die Show gestohlen. Es ist Samstagnachmittag, fernab vom Berliner Alltag haben sich die 38 Mitglieder der SPD-Fraktion des Berliner Abgeordnetenhauses im Grand Hotel Méridien in Nürnberg zur Klausur zurückgezogen. Gerade hat der SPD-Landeschef und Regierende Bürgermeister Michael Müller seine Rede beendet, da tritt Franziska Giffey auf. „Ich war gerade in der Gegend, um die Nürnberger SPD im Kommunalwahlkampf zu unterstützen“, sagt sie und lächelt unschuldig. Dann wickelt sie die Berliner Abgeordneten um den Finger. Sie hält die SPD-Broschüre „Eine Stadt für alle“ hoch und fragt, als ob sie eine Gruppe SchülerInnen vor sich hätte, entzückt: „Wer hat das denn gemacht? Etwa ihr alle?“ Während ihr die GenossInnen allen Ernstes zujubeln, sucht Müller das Weite. Vor dem Saal unterhält er sich an den Kaffeetischen mit einem Staatssekretär.

Michael Müller räumt das Feld

Eine Szene, die symbolischer nicht sein könnte: Giffey kommt, Müller geht. Seit Mittwoch ist das nun offiziell. Beim SPD-Landesparteitag im Mai wird die Bundesfamilienministerin und ehemalige Neuköllner Bezirksbürgermeisterin zusammen mit Fraktionschef Raed Saleh als Doppelspitze für den Landesvorsitz kandidieren. Eine Kampfkandidatur wird es nicht geben: Müller räumt das Feld. Damit dürfte Giffey auch als Spitzenkandidatin der Berliner SPD für die Wahl zum Abgeordnetenhaus im Herbst 2021 gesetzt sein. Es sei denn, sie übernimmt das Amt schon früher, wofür sie als Bundesministerin zurücktreten müsste. Und die Perspektive? Die zielt nach ganz oben. Der Schritt in die Landespolitik könnte ihr am Ende sogar die Kandidatur als Kanzlerin einbringen.

Giffeys fast schon kometenhafter Aufstieg vollzieht sich parallel zum Niedergang der SPD. Viele HoffnungsträgerInnen hat die Partei derzeit nicht. Giffey aber hat gezeigt, wie der Weg nach oben geht. Mit 29 tritt die heute 41-Jährige in die SPD ein, das erste Amt: Kassiererin im Neuköllner Kreisvorstand. Als Heinz Buschkowsky – damals Deutschlands bekanntester Kommunalpolitiker in Deutschlands skandalträchtigstem Bezirk – 2015 abtritt, folgt ihm Giffey als Bezirksbürgermeisterin. „Deutschlands Bürgermeisterin“, wird die Süddeutsche Zeitung sie später nennen.

Drei Jahre später holt die SPD sie als Familien- und Frauenministerin ins Kabinett, ein Überraschungscoup. Und nun der Griff nach der Macht im Roten Rathaus. Giffey weiß genau, dass ihre Partei nach der nächsten Bundestagswahl wohl nicht mehr an der Regierung sein wird. Wenn sie es aber schafft, die Berliner SPD bei der gleichzeitig stattfindenden Landtagswahl zur stärksten Kraft zu machen, hätte sie den Nimbus der Gewinnerin. Derzeit liegen die Berliner GenossInnen bei 15, die Koali­tions­partner Grüne und Linke bei 23 bzw. 19 Prozent. Die CDU kommt auf 18, die AfD auf 13 Prozent. Ein Selbstläufer, das muss auch Giffey klar sein, wird das nicht. Und: Passt das zusammen? Berlin und Franziska Giffey?

Was der letzte Regierende mit Strahlkraft – Klaus Wowereit – mit Berlin verband, ist zumindest nicht das, was Giffey damit verbindet. Links und liberal, arm, aber sexy: bei diesem Markenkern dürften Giffey, die als SPD-Rechte gilt, die ordentlich zurechtgemachten Haare zu Berge stehen. Armut ist für Giffey nicht sexy, sondern etwas, was bekämpft werden muss – vor allem wenn es um Kinder geht. Als Bezirksbürgermeisterin in einem der ärmsten Stadtteile der Republik packte sie an. Sie machte sich für kostenlose Mittagessen stark und dafür, die Ganztagsbetreuung auszubauen. Sie verstärkte die Polizeipräsenz im Bezirk und in­stal­lierte Wachschutz an Schulen. Sie befürwortete aber auch Burkinis, damit Mädchen schwimmen lernen konnten – fern von Ideologie, geprägt von Pragmatismus. „Allen Kindern eine Zukunft bieten“ steht auch heute auf ihrer Website.

Das ist, was auch ihre Politik als Bundesministerin prägt: Familienpolitik. Feminismus? Ist nicht so ihr Ding. Positionen, die als radikal gelten könnten, sind es schon gar nicht. Giffey setzt nicht auf Maximalforderungen und Konfrontation, sie setzt auf Kompromiss und Zusammenarbeit. Die Quote in der Wirtschaft vertritt sie zwar, doch ein Gefühl für diejenigen, die diese schon lange fordern, musste sie sich erst erarbeiten. Bei einem ihrer ersten Auftritte als Ministerin etwa sprach sie vor vollem Haus vor der „Initiative für mehr Frauen in die Aufsichtsräte“. „Frauen können alles!“, spornte sie die Wirtschaftsfrauen an. Als müsste man denen das sagen.

Auch mit der Abschaffung des Paragrafen 219a, der es ÄrztInnen verbietet, auf ihren Websites über Schwangerschaftsabbrüche zu informieren, fremdelt sie. Verständnis dafür, dass ein Thema wie dieses die Koalition zum Wackeln bringen kann, wie kurzzeitig geschehen, hat sie keines. Sie will etwas schaffen, sie will an dem arbeiten, was im Koalitionsvertrag vereinbart ist – und sie legt den Schwerpunkt auf Themen, die sie aus Neukölln gut kennt: das Gute-Kita-Gesetz, das Starke-Familien-Gesetz, den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung. Giffey ist Familienministerin. Die Frauen schwingen eher mit.

Doch dass sie ihre bisherige politische Biografie durch das Amt als Bundesministerin geadelt hat, wird sie im Berliner Wahlkampf nutzen können. Eine fast zarte Stimme, ein freundlich-bestimmtes Auftreten, immer beschwingt, immer adrett – „blass“ wie Müller, dem dieses Etikett seit Amtsantritt anhaftet, wird Giffey nicht bleiben. Müller vergräbt sich in Akten, sie geht offen auf Menschen zu. Müller ist misstrauisch und verlässt sich nur auf seinen engsten Zirkel. Giffey kann auf Bundesebene auch mit Unions-Leuten wie Spahn – und verbündet sich auf Landesebene nun mit SPD-Frak­tions­chef Raed Saleh, der ihr en passant die nötige Mehrheit beim Parteitag beschaffen soll.

So lässig wie Berlin ist Giffey nicht

Aber für welches Berlin steht die Politikerin, die in Frankfurt (Oder) geboren wurde? Für das Berlin, das sich gerne als Labor einer neuen Mobilität versteht, die Verkehrswende voranbringen und die Verbrennungsmotoren aus der Innenstadt verbannen will? Für das Berlin der Initiativen, die große Wohnungsunternehmen enteignen wollen? Für das diverse Berlin in Kreuzberg und Mitte? Für die Start-ups und Kreativen, die der Berliner Wirtschaft derzeit einen ungeahnten Boom bescheren?

Seit der Abgeordnetenhauswahl 2016 wird Berlin von einem rot-rot-grünen Bündnis regiert. Die SPD war damals mit 21,6 Prozent stärkste Partei geworden, gefolgt von Linken (17,6) und Grünen (15,6).

Neueste Umfragen aber sehen seit Monaten die Grünen vorne. Sie rangieren bei 23 Prozent, die Linke bei 19, die SPD bei 15.

Sollte Franziska Giffey nicht nur einen Machtwechsel an der Berliner SPD-Spitze anstreben, sondern auch im Roten Rathaus, gäbe es zwei Möglichkeiten. Entweder stimmen Grüne und Linke zu, oder es gibt Neuwahlen.

Beides wäre für die Koalitionspartner mit Risiken verbunden. Im ersten Fall würden sie Giffey für die Wahl 2021 einen Amtsbonus verschaffen. Im zweiten könnte schon jetzt der Giffey-Boom wahlentscheidend sein. (wera)

„Ich bin Berlinerin, ich liebe meine Stadt“, sagte Giffey am Mittwoch. Dass sie U-Bahn fährt, erzählt sie gern. „Ich muss mitkriegen, was in Berlin passiert.“ Und auch Sätze wie diese sagt sie: „Berlin ist einfach mal geil.“ Soll heißen: Ich bin kompatibel mit dem lässigen Berlin. Lässigkeit aber ist nun wirklich nicht das, was die grundsolide Verwaltungsfachfrau Giffey verkörpert, die manchmal leise aus der Zeit gefallen wirkt.

Wahrscheinlicher ist, dass sie das Berlin der kleinen Leute anspricht – die klassischen WählerInnenschichten der SPD. Wenn sie diese zurückgewinnen könnte für die SozialdemokratInnen, dann wäre Giffey womöglich nicht nur ein paar Jahre Regierende Bürgermeisterin, sondern auch eine ernst zu nehmende Kanzlerkandidatin.

Kann ihrem Weg nach oben noch etwas im Weg stehen? Ihre Krisen jedenfalls übersteht sie mit Zurückhaltung und Redlichkeit: Für den SPD-Vorsitz kandidierte sie nicht, weil unklar war, ob ihr der Doktortitel wegen Plagiats aberkannt werden würde. Sie selbst hatte die Überprüfung beantragt, als der Verdacht aufgekommen war – und angekündigt, ihr Ministerinnenamt zurückzugeben, sollte er sich erhärten. Statt SPD-Bundeschefin zu werden, unterstützte sie fortan Olaf Scholz. Die Freie Universität war gnädig: Giffey wurde nur gerügt. Ihr Vorgehen aber bescherte ihr letztlich Glaubwürdigkeit. Und auch die Affäre um ihren Mann, der wegen mutmaßlichen Betrugs den Beamtenstatus aberkannt bekam, scheint ihr zumindest bislang nicht zu schaden. Auch hier ist ihre Strategie Zurückhaltung. Persönliche Angelegenheiten, heißt es nur, werde sie nicht kommentieren.

Schaden könnte Giffey nur, wenn sie ungeduldig werden sollte. Bislang haben Müller, Giffey und Saleh nur verabredet, wer die beiden nächsten SPD-Landesvorsitzenden werden sollen. Eine vorzeitige Ablösung im Roten Rathaus gehört nicht zum offiziellen Plan. Sollte Giffey sie forcieren, müsste sie auch von Grünen und Linken gewählt werden. Die aber haben keine Lust, ihre Konkurrentin bei den Wahlen 2021 mit einem Amtsbonus auszustatten. Am Ende könnte es sogar zu einem Bruch von Rot-Rot-Grün und zu Neuwahlen kommen. Dann müsste die neue Landeschefin auch als Spitzenkandidatin sofort ins kalte Wasser springen.

Wartet sie dagegen den regulären Wahltermin ab, könnte die SPD trotz der erhofften Heilsbringerin mit der Lame Duck Michael Müller weiter abschmieren. Wie egal der Berliner SPD die Landespolitik ist, zeigt ausgerechnet die Bekanntgabe der Personalie Giffey. Sie erfolgte einen Tag vor der Verabschiedung des Mietendeckels – des wichtigsten Projekts von Rot-Rot-Grün.