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Keine Bananen, sondern fairer Lohn

Wer aus der Türkei nach Deutschland migriert, landet oft in prekären Arbeitsverhältnissen. Die „New Wave“ hat die Wahl zwischen Callcenter und Schwarzarbeit

Von Eren Paydaş

Als Mahir Gümüş* vor fünf Jahren nach Berlin kam, hätte er sich beim besten Willen nicht vorstellen können, dass er einmal Selbstmord- und Foltervideos schauen würde, um Geld zu verdienen. In der Türkei hatte er kulturelle Veranstaltungen organisiert. Das wollte er eigentlich auch in Berlin tun. Doch es war nicht leicht, die richtigen Beziehungen dafür aufzubauen. Um Geld zu verdienen, arbeitete er zuerst schwarz und fing dann bei Arvato an, einem Subunternehmen von Face­book, das immerhin Mindestlohn zahlte.

Seine Arbeit bei Arvato bezeichnet Gümüş als „digitale Müllabfuhr“: Seine Aufgabe war es, bei Facebook gemeldete Videos und Bilder von Mord, Suizid, Vergewaltigung und Folter zu überprüfen und zu löschen. Pro Tag musste er rund 900 Beiträge sichten. „Nachdem ich das Video einer Vergewaltigung gesehen hatte, bin ich zusammengebrochen. Danach konnte ich nicht mehr weitermachen“, sagt Gümüş. Inzwischen arbeitet der 30-Jährige als Fahrer für eine Textilreinigung.

Man kann sagen, man arbeite in der IT-Branche

Nach Angaben des türkischen Statistik­instituts TÜIK haben allein im Jahr 2018 136.000 türkische Staatsbürger*innen die Türkei verlassen. Knapp 47.500 von ihnen sind laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Der Großteil der als New Wave bezeichneten neuen Generation von Mi­gran­t*in­nen ist zwischen 20 und 35, studiert oder hat die Universität abgeschlossen. Aus der Türkei betrachtet, haben diese Menschen hier ein gutes Leben. Auch in der deutschen Gesellschaft werden sie ganz anders wahrgenommen als die Arbeiter*innen, die in den sechziger Jahren kamen. Doch wie groß ist der Unterschied zwischen den Arbeitsbedingungen der alten und der neuen Generation?

Menschen, die neu in Berlin ankommen, haben laut Gümüş zwei Möglichkeiten. Eine ist, in Geschäften der älteren Einwandergeneration zu arbeiten. Das heißt oft kellnern, putzen oder schleppen, und das schwarz. „Meist habe ich mit Osteuropäer*innen, syrischen Geflüchteten und den Kindern türkeistämmiger Familien zusammengearbeitet. Einmal wurde mir ein Stundenlohn von drei Euro angeboten, um Tee auszuschenken“, sagt Gümüş.

Migrant*innen, die Englisch sprechen, haben noch eine zweite Option, nämlich die Subunternehmen der multinationalen Firmen, die Arbeitskräfte für ihr Marketing in der Türkei brauchen. Gezahlt wird meist wenig mehr als Mindestlohn, die Arbeitsverträge sind stets befristet. Innerhalb der New Wave kennen fast alle Arvato. Das Unternehmen, über das wegen der Schweigepflicht nur unter vorgehaltener Hand gesprochen wird, überprüft in Berlin für Face­book Inhalte. Um die 650 Menschen arbeiten in dem 2015 gegründeten Unternehmen.

„Als ich nach allen möglichen Jobs bei Arvato angefangen habe, fand ich es reizvoll, in einem professionellen Unternehmen mit ähnlichen Menschen in einem richtigen Büro zu arbeiten“, sagt Faik Bakır*. Der 38-jährige Literaturwissenschaftler kam 2012 nach Berlin, um seine Doktor­arbeit zu schreiben. Unter den Angestellten bei Arvato waren Ärz­t*in­nen, Leh­re­r*in­nen und An­wäl­t*in­nen, die erst vor Kurzem aus der Türkei nach Deutschland gekommen waren. Den Freund*innen und Verwandten in der Türkei könne man sagen, dass man bei Facebook arbeite oder in der IT-Branche. Das mache es einfacher, den eigentlichen Kern der Arbeit zu verbergen, und bringe nebenbei noch Anerkennung. Doch die Arbeitsbedingungen waren schlecht, das Sichten der Gewaltdarstellungen belastend. Zwar habe die Firma auf Drängen der Mitarbeiter*innen psychologische Unterstützung angeboten, sagt Faik Bakır. Doch es sei fast unmöglich gewesen, einen Termin für die Beratung zu bekommen, die nur ein paar Stunden pro Woche stattfand. Inzwischen hat er gekündigt und sucht eine neue Arbeit.

Der Kundenservice ist ganz auf Flexibilität ausgerichtet. Die 42-jährige Ayşe ­Bulut* hat in Berlin die letzten fünf Jahre im Callcenter der Onlinebank N26 sowie von Booking.com gearbeitet. Sie stört die Unberechenbarkeit, die mit der ­Flexibilität einhergeht. „Man kann im Leben überhaupt nichts planen“, sagt sie. „Es sind meist Start-ups, die versuchen, sich als cool darzustellen. Aber sie bezahlen nur Mindestlohn und geben dann auch noch damit an, dass bei ihnen Obst und Knabberzeug umsonst sind“, sagt die Dramaturgin. „Ich würde diesen ganzen Start-ups am liebsten sagen, dass sie sich ihre Bananen sonst wohin stecken können und lieber ordentlich bezahlen sollen.“ Weil viele Menschen Arbeit suchten, gingen diese Firmen mit den Menschen um, wie sie wollten, fügt Bulut hinzu.

Der Luxus, sich seinen Job aussuchen zu können

Die Ausbeutung, der Migrant*innen auf dem deutschen Arbeitsmarkt ausgesetzt sind, wird dem Arbeitsökonomen Rauf ­Kesici von der Freien Universität Berlin zufolge durch den Neoliberalismus ermöglicht. Unternehmen könnten die neu angekommenen Mi­gran­t*in­nen aufgrund einer auf Flexibilität ausgerichteten Gesetzeslage nach eigenen Bedingungen beschäftigen. Dass die meisten nicht Deutsch sprächen und die Behördenstrukturen nicht kennten, setze sie stärker Missbrauch aus. Auch dass ihre Aufenthaltserlaubnis oft an einen Arbeitsvertrag gekoppelt sei, spiele eine Rolle. „Auf dem Arbeitsmarkt verstärken sich die Verletzbarkeit und Wehrlosigkeit der neuen Migrant*innen“, sagt er.

Die Migrant*innen, die Jahre in unsicheren Arbeitsverhältnissen verbringen, versuchen ihre Erwartungen an diese Bedingungen anzupassen. Ayşe Bulut will nun Theaterworkshops geben. Doch solange sie keine Finanzierung dafür hat, ist sie weiterhin gezwungen, im Kundenservice zu arbeiten. Mahir Gümüş hat sich damit abgefunden, dass er nicht den Luxus haben wird, sich auszusuchen, welchen Job er macht. Mit den Arbeitsbedingungen in der Textilreinigung ist er zufrieden. „Meine Priorität ist jetzt, für meine Arbeit fair entlohnt zu werden und ein Minimum an Sicherheit zu haben.“ Faik Bakırs Doktorarbeit liegt seit Langem auf Eis. Wenn das Jobcenter ihm die Fortbildung bezahlt, will er in Zukunft Geflüchtete beraten, und das, bevor er 40 ist: „Wenn ich ohne Unterbrechung bis 65 arbeite, habe ich Anspruch auf eine Rente. Die wird sehr niedrig sein, weil ich ja nur 25 Jahre gearbeitet haben werde, aber vielleicht kann ich mit diesem Geld in einem relativ billigen osteuropäischen Land leben.“

*Namen von der Redaktion geändert

Aus dem Türkischen von Julia Lauenstein

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