piwik no script img

„Vieles ist noch immer unfassbar schwierig“

Die Integration von Menschen mit Behinderung in den Arbeitsmarkt stockt noch immer: Interview mit der niedersächsischen Landesbeauftragten für Menschen mit Behinderung, Petra Wontorra

Foto: Tom Figiel

Petra Wontorra, 60, ist seit 2015 Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderung in Niedersachsen. Zuvor war sie vor allem in Bremen in der Behindertenbewegung engagiert.

Interview André Zuschlag

taz: Frau Wontorra, in Niedersachsen liegt die Arbeitslosenquote von Schwerbehinderten bei 10,4 Prozent. Wie bewerten Sie diesen Wert?

Petra Wontorra: Nach wie vor sind Menschen mit Behinderung länger und häufiger arbeitslos als Menschen ohne. Wenn man sich deren seit Jahren geringe Arbeitslosigkeit ansieht, muss man festhalten: Wir partizipieren nicht am Aufschwung.

Woran liegt das?

Wir erleben in den letzten Jahren einen massiven Anstieg psychischer und seelischer Behinderungen. Dort kommen Leute an ihrem alten Arbeitsplatz nicht mehr zurecht, sind mit ihrer Kraft am Ende. Und was passiert dann? Sie erleben neue Widerstände, es gibt große Wartezeiten, wenige Ansprechstellen. Mittlerweile sind es 46 Prozent aller Frührentner*innen, die wegen psychischer und seelischer Erkrankung beziehungsweise Behinderung früher aus dem Arbeitsleben ausscheiden.

Welche Gründe gibt es noch?

Viele Arbeitgeber kaufen sich von ihrer Verpflichtung frei, Menschen mit Behinderung einzustellen.

Wie geht das?

Unternehmen mit mehr als 20 Angestellten sind dazu verpflichtet, mindestens eine Person mit Behinderung einzustellen, doch noch immer haben rund 25 Prozent der betreffenden Unternehmen keine Stelle. Die müssen dann eine Ausgleichsabgabe zahlen. Da diese niedrig ist, nehmen es viele Unternehmen in Kauf zu zahlen. Sinnvoll wäre es, die Abgabe auf 650 Euro pro Monat zu erhöhen, wie es auch der Bundesbeauftragte fordert. Bisher liegt die Abgabe weit darunter, oftmals so bei der Hälfte des geforderten Betrags.

Warum stellen Unternehmen zu selten Menschen mit Behinderung ein?

Die wollen natürlich eine freie Stelle zeitnah besetzen und denken sich häufig, dass es, ehe sie alles beachtet haben, zu lange dauert, bis jemand mit Behinderung dann auch wirklich am Arbeitsplatz arbeitet.

Berührungsängste spielen doch sicher auch eine Rolle?

Ich würde sagen, es gibt Vorbehalte. Die erste Stelle mit einem Menschen mit Behinderung im Unternehmen zu besetzen, ist immer das Schwierigste. Zu meiner Schulzeit gab es in der Klasse niemanden mit einer Behinderung. Dafür gab es ja die Förderschulen. Heute haben viele schon Mitschüler in der Klasse, der oder die vielleicht nicht sehen kann oder ein Down-Syndrom hat. Die Mitschüler sehen: Okay, der ist sportlich nicht der beste, aber er hat andere Stärken. Wenn aus dieser Klasse jemand später einmal Personaler wird, sind diese Vorbehalte aufgrund der Erfahrungen vielleicht nicht mehr da. Und dabei gibt es ja Menschen, die mit ihrer Behinderung sogar einen Vorteil im Job haben.

Und zwar?

Ein Tauber, der in einer lauten Fabrik arbeitet, ist privilegiert.

Gibt es da Branchenunterschiede?

Der öffentliche Dienst ist sicher weiter. Wobei gerade im Innen- und Bildungsressort, sprich Polizei und Lehrerschaft, noch Potenzial ist. Klar, einen Verbrecher verfolgen könnte ich auch nicht, aber es gibt auch dort noch andere Aufgabenbereiche.

Und im Privatsektor?Hier sehe ich besonders in den sogenannten Außenarbeitsplätzen ein großes Problem.

Das heißt?

Statt selbst einzustellen, geben Firmen Aufträge an Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM). Firmen geben dadurch das Risiko, etwa wenn jemand krank wird, komplett an die Werkstätten ab. Problematisch kommt hinzu, dass die Träger der Werkstätten in Konkurrenz zueinander stehen.

Und diese Träger verhindern durch die Sonderbedingungen, unter denen ihre Leute arbeiten, deren wirkliche Integration in den allgemeinen Arbeitsmarkt?

Das ist umstritten, aber ich würde schon sagen, dass die Werkstätten ihrem Auftrag nicht nachkommen.

Sie fordern mehr Praktikumsstellen für Behinderte. Was erhoffen Sie sich davon?

Es geht darum, sich auszuprobieren. Und selbst das ist heute immer noch unfassbar schwierig. Menschen mit Behinderung müssen selbst ein einfaches Praktikum Jahre im Voraus planen – wie komme ich zur Arbeitsstätte, habe ich dort eine Assistenz? Das wird bisher alles noch nicht mitgedacht.

Sie nehmen da die Unternehmen in die Pflicht?

Es scheitert auch an fehlenden Hilfsmitteln. Wenn jemand blind ist, haben Unternehmen keine Ansprechpartner, die zum Beispiel Equipment stellen würden. Dabei haben wir doch schließlich Fachkräftemangel! Aber die Talente und Potenziale von Menschen mit Behinderung werden nicht entdeckt und gefördert. Haben Sie schon mal von Job Carving gehört?

Nein.

Es geht darum, eine passende Arbeitsstelle zu „schnitzen“. Eine neu geschaffene Position wird genau auf die Fähigkeiten einer bestimmten Person zugeschnitten. Dadurch wiederum können sich die anderen Mitarbeiter*innen auf ihre Kerntätigkeiten konzentrieren. Dadurch kann zum einen der Fachkräftemangel abgemildert werden und zum anderen sinkt die Arbeitslosenquote bei Menschen mit Behinderung.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen