: Will you still need me when I’m 64?
Frankreichs Regierung ist zum „vorläufigen“ Verzicht auf ein höheres Renteneintrittsalter bereit, doch die radikaleren Gewerkschaften lehnen dies als „Pseudokompromiss“ ab
Aus Paris Rudolf Balmer
Frankreichs Premierminister Edouard Philippe hat am Samstag Arbeitgebern und Gewerkschaften mitgeteilt, dass die Erhöhung des Rentenalters von heute 62 auf (vorerst) 64 „vorläufig“ nicht in der umstrittenen Gesetzesvorlage zur Rentenreform stehen werde. Diese von ihm als „provisorisch“ deklarierte Konzession ist allerdings das einzige Zugeständnis, das die Gewerkschaften mit ihren Streiks, Demonstrationen und der Forderung nach „echten“ Verhandlungen bisher erzielt haben. Präsident Emmanuel Macron begrüßte noch am Samstagabend Philippes Schritt als „konstruktiven und verantwortungsvollen Kompromiss“.
Auf dem Papier entspricht das Entgegenkommen der Regierung der Forderung des gemäßigten Gewerkschaftsverbands CFDT. Deren Vorsitzender, Laurent Berger, steht Macron politisch nahe. Er hatte nicht verstanden, weshalb der Premier nicht enger mit ihm kooperiert hatte, sondern im Gegenteil zum von Macron gewünschten Wechsel des Rentensystems (Vereinheitlichung der 42 Kassen in einer einzigen und Berechnung der Rentenhöhe aufgrund von Punkten während des Erwerbslebens) auch diese provozierende Sparmaßnahme hinzugefügt hatte.
Obwohl die Erhöhung der Altersgrenze, ab der eine volle Rente bezogen werden kann, wenn genügend Beitragsjahre (heute 43) vorliegen, nun nur „provisorisch“ ausgesetzt wird, feiert dies Berger als „Sieg“. In Wirklichkeit beauftragt der Regierungschef in seinem Brief die Sozialpartner, „bis Ende April“, also in sehr kurzer Zeit, konkrete Vorschläge zur längerfristigen Finanzierung der Renten zu machen: Falls Arbeitgeber und Gewerkschaften gemeinsam eine andere oder bessere Lösung finden, würde er auf die von ihm als Minimum erachtete Erhöhung des Ruhestandalters verzichten. Andernfalls werde er verantwortungsbewusst die Konsequenzen ziehen. Anders gesagt, das Rentenalter 64 oder höher kommt dann doch.
Ohnehin steht in der Gesetzesvorlage, dass stets, wenn sich die Sozialpartner nicht einigen, die Staatsführung das letzte Wort hat. Sie soll auch über die Umsetzung der restlichen Reform entscheiden: über den Wert der Punkte im neuen System und damit über die Höhe der Renten sowie allfällige Sonderbestimmungen für gewisse Berufsgruppen. In Frankreich sind von den 60- bis 64-Jährigen nur etwa ein Viertel noch berufstätig, von den 65- bis 69-Jährigen weniger als 10 Prozent. Wer mit über 55 arbeitslos wird, hat kaum Chancen auf eine Neuanstellung. Für die Senioren gibt es schlicht keinen Platz im Arbeitsmarkt. Ihnen pauschal zu sagen, sie müssten für eine volle Rente dennoch länger arbeiten, ist aus ihrer Sicht zynisch.
Für die radikaleren Gewerkschaften wie CGT, Force Ouvrière und andere an den laufenden Streiks beteiligte Gewerkschaften ändert sich mit dem „provisorischen“ Einlenken der Regierung nichts. CGT-Chef Philippe Martinez erklärte, nach dem Pseudozugeständnis des Premiers sei er „mehr denn je entschlossen, den völligen Rückzug der Reformvorlage der Regierung zu fordern“.
Auf den Demonstrationen am Samstag reagierten viele TeilnehmerInnen verdrossen oder zornig. Sie sehen im „Deal“ zwischen Philippe/Macron und Berger einen „Schwindel“ oder eine „Manipulation“. Sie wollen den Verzicht auf das Punktesystem, das für eine Mehrheit der jüngeren Generationen niedrigere Renten bedeutet, und wollen eine Verbesserung für die Kategorien, die bereits heute und erst recht von der Reform klar benachteiligt sind: Frauen, die wegen Lücken im Arbeitsleben und generell geringeren Einkommen mit weniger Rente rechnen müssen.
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