Vorteile des Älterwerdens: Strahlkraft meiner Seele

Was im Alter auf den ersten Blick als Nachteil erscheint, ist oft ein evolutionärer Vorteil. Zum Beispiel die Tasthaare, die überall wachsen.

Detailaufnahme: Die berühmten buschigen Augenbrauen des Ex-Finanzministers Theo Waigel

Wunderschön, und furchtbar nützlich: Tasthaare Foto: dpa

Bislang war an dieser Stelle vorwiegend von Verlust und Verfall die Rede. Schließlich ist selbstmitleidiges Gejammer auf tiefstem Niveau ein zentrales Feature des Andropausengeklingels. Doch natürlich erfährt man ebenso viel Gewinn aus der Entwicklung. Denn wo eine Rolltreppe abwärts fährt, führt meist auch eine andere nach oben. Der menschliche Körper und Geist sind zu schier unglaublichen Kompensationsleistungen fähig.

So mag sich mancher fragen, wozu wohl diese weißen Borsten dienen, die dem Best Ager wie Unkraut aus den Ohren schießen. Hinzu kommen bei mir seit einiger Zeit noch ellenlange Einzelhaare oben auf den Ohrmuscheln, nicht zu vergessen das gebüschartig wuchernde Augengrauen.

Doch die Erklärung ist so einfach wie der Nutzen groß. Denn wie bei einer Katze, die sich in stockfinsteren Räumen mittels ihrer Tasthaare zu orientieren weiß, dienen diese auch dem Andropausenmann als zusätzliche Sinnesorgane.

Das hat die Natur umso genialer eingerichtet, da dem alternden Menschen ja gern mal die Sehkraft schwindet. Die gewaltigen Fühler über den Augen decken eher den Frontbereich ab und leisten wegen ihrer Länge vorzügliche Dienste vor allem bei Fahrrad- oder Autofahrten (Fenster immer auflassen, was mein Urologe Zbigniew ohnehin wegen des Geruchs infolge des Nachtröpfelns empfiehlt). Mithilfe der feiner justierten Härchen in den Ohren orte ich wiederum kleinere Hindernisse wie Stühle oder Bierflaschen.

Oscarreif Orgasmen vortäuschen

Auch andere Skills brechen sich nun Bahn und lackieren die Not mal eben schnell zur Tugend um. Das ist nicht anders als bei einem Fluss, dem das angestammte Bett versperrt ist und der sich daraufhin ein neues gräbt. So habe ich nicht nur gelernt, oscarreif Orgasmen vorzutäuschen, sondern die Erektion gleich noch dazu. Try this at home, das ist nämlich gar nicht so einfach – dagegen ist selbst die anspruchsvolle B-Seite des Kamasutra ein Kinderspiel.

Der alternde Mann hat es weniger leicht, als viele denken. Die Hormone spielen verrückt, der Andropausen­clown versteht die Welt nicht mehr. Die Frau ist weg, und sein bester Freund ist der Urologe. Alle Folgen der Kolumne "Andropause" gibt's hier.

Und da wir schon mal beim Thema sind: Natürlich punkte ich nun viel mehr über innere Werte als früher. Damit meine ich nicht nur Promille, Dioptrien und PSA, sondern vor allem die zunehmende Strahlkraft meiner Seele, die meine immerfeuchten Triefaugen von innen heraus leuchten lässt wie einen wunderschönen alten Teich im Zauberwald.

Keinen Ausgleich erfährt hingegen der Charakter. Da müssen wir leider noch bis nach der Andropause warten. Bis dahin prägt uns anstelle der gelassenen Weisheit des 80-Jährigen, der nichts mehr zu verlieren, zu beschönigen und zu verbergen hat, die verzweifelte Bosheit des 50-, 60-, heutzutage vielleicht auch noch des hippen 70-Jährigen, dem durch ein Leck im Hirn Tropfen für Tropfen das letzte Testosteron entweicht.

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Seit 2001 freier Schreibmann für verschiedene Ressorts. Mitglied der Berliner Lesebühne "LSD - Liebe statt Drogen" und Autor zahlreicher Bücher.

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