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Der Aufbauer

Aufgewachsen in Niedersachsen, studiert in Westberlin: Karl-Heinz Ruch, ewiger Geschäftsführer der taz und, mehr noch, Verleger einer Zeitung, die keine Chance hatte und sie doch zu nutzen wusste

Von Jan Feddersen

Ein Blick aus ganz anderer Perspektive lohnt ja immer. Man muss ihn, um den es hier geht, mit den Augen ähnlich Erfolgreicher mal angucken. Leute aus anderen Branchen, gern aus dem Medienbereich. Die gehen den Verleger der taz besuchen, sei es als Architekten, als Parteiobere oder als Leute aus Verlagshäusern – und denken vermutlich immer, so einer müsse doch ein schickes Büro haben, repräsentativ, ehrenvoll weitläufig, wenigstens im neuen Haus an der Friedrichstraße. So ganz weit oben, am besten im hellen Eck mit Aussichten auf die Friedrichstraße wie auch auf das Quartier rund um den Besselpark, außerdem mit irgendwie dann doch größerem Schreibtisch, nur erreichbar über ein Vorzimmer.

Diese Erwartung enttäuscht er, wie so viele andere, ohne aus diesem Understatement die fette Pose zu stricken: Hey, bin ich nicht bescheiden und noch ganz wie früher, basisorientiert?

Holt er seinen Besuch im Foyer ab, im schönen, keineswegs jedoch prunkigen Empfangsbereich zwischen Fahrstühlen und taz-Kantine, nimmt er ihn mit in ein Besprechungszimmer. Wollen die Leute am Ende eines Meetings auch noch seinen Schreibtisch sehen, scheinen sie es nicht wirklich zu realisieren: ein Desk, der sich in Größe in nichts von allen anderen im Haus unterscheidet, er mutet sogar ein wenig eingeklemmt an – das soll sein Arbeitsplatz sein? Das verstört, ein bisschen wenigstens jene, die ihn eher nur ganz aus der Ferne kennen: Karl-Heinz Ruch, der ewige Verleger und Geschäftsführer der taz, hält wohl viel auf Understatement. Zumal in seinen letzten Monaten, ehe er das Haus in den Ruhestand verlässt.

Womöglich ist der Schreibtisch ein Symbol wie ein Austragshäusl, im Bäuerlichen die letzte Behausung der Alten vor dem Tod, aus dem Blick der Jungen geräumt, vor allem in der Redaktion der Zeitung, eine Art Elder-Statesman-Plätzchen, wo man nichts mehr zu melden hat? Ein Irrtum, denn auch im alten taz-Haus an der Rudi-Dutschke-Straße hielt es die Geschäftsführung nicht anders. Eher smart. Andreas Bull und er saßen sich gegenüber im fünften Stock des Neubaus, beide schon damals nicht wie eine Kommandozentrale des alternativen Medienbetriebs aussehend, Buchhaltung und Controlling gleich nebenan, in Rufweite alle, selbst im Kammerton.

Aber Kalle, muss man sich Sorgen machen? Reicht dir denn der Schreibtisch? Bist du ein Geschäftsführer in Abwicklung? Er antwortet, wie er alles sagt, lapidar, lakonisch, knapp: „Ich brauchte nie mehr.“

Bescheiden zu wirken gehört ja zu den feinsten Übungen in der Kunst des Macht, bei Karl-Heinz Ruch, den man schon bei den ersten taz-Gründungstreffen 1978 „Kalle“ nannte, ist der Habitus ernsthaft und echt. Er hatte nie etwas anderes vor, als ein Projekt wie die taz zum Erfolg zu bringen, es am Leben zu erhalten und zur seriösen Marke in der Medienlandschaft zu fertigen. „Mir ist wohl ein strategisches Gen gegeben“, sagt er bei einer Matscha-Brause – sonst trinkt er Tee, nur noch Tee –, schon als Schüler spielte er gern Schach, ein Training in vorausschauender, kalkulierender Intelligenz: Welcher nächste Zug ist der günstigste, um am Ende des Spiels nicht den eigenen König umgekegelt bekommen zu haben?

Dabei wirkt er nie wie ein Getriebener oder gar Ängstlicher. Er kommt morgens kurz vor acht Uhr in die taz und geht nachmittags zwischen vier und fünf nach Hause. Nie wirkt er abgekämpft, eher scheu und freundlich. Allzu große körperliche Nähe schätzt er kollegialerweise nicht, und noch mehr geht er auf Distanz, wenn ihn Personen, nun ja, vollschwallern mit taz-Plänen, die ja meist von höchstpersönlichen Interessen handeln. Sprach ihn vor vielen Jahren eine Person also auf einer Abschiedsparty an und trug das Anliegen vor, sie möge doch bitte jetzt Chefredakteurs­person werden. Das war ungeschickt genug, aber am hübschesten an dieser Szene war Kalle Ruchs kühle Desinteressiertheit an Smalltalk wie diesem – er erwiderte nur: „Ach, das wird man sehen.“

Manche Kolleg:innen schildern ihn zurückgenommen, weil er viele Anfeindungen im Laufe von mehr als vier Jahrzehnten taz hat erdulden müssen. Andere skizzieren ihn als mit dem gewissen Händchen begabt, personalpolitisch gute Entscheidungen zu treffen.

Was für ihn zählt, ist eine gewisse Ergebenheit der taz gegenüber – wenigstens zeitweise, am besten für länger. In seinem Fall ist dies eine Ergebenheit für das ganze Berufsleben – und das nicht einmal zwangsweise: Angebote Dritter haben ihn nie interessiert, selbst höchste ­Gagen haben ihn nicht weggelockt, denn: „Ich war in der taz, bei allen Kämpfen, die es gab, immer zufrieden.“ Und ist es mehr denn je.

Geboren wurde er 1954 in Löningen, katholischstes, ultrakonservativstes Niedersachsen, aufgewachsen indes in einer keinewegs mittelschichtigen, eher ehrgeizig-wohlstandswilligen und proletarisch grundierten Familie im bundesdeutschen Wachstumsgürtel um Salzgitter, Wolfenbüttel und Braunschweig – ehe er zum Studium nach Berlin ging, Volkswirtschaft, schon damals eine Disziplin der ökonomischen Gesetze.

Als die taz in den späten siebziger Jahren sich aus der Ursuppe der alternativen Szene herauskristallisierte, als beim Tunix-Kongress 1978 in einer Arbeitsgruppe eine Zeitung als Projekt entwickelt werden sollte, war er dabei. Ausdrücklich nicht als Journalist, der war er nicht und wollte ein solcher auch nie werden: „Viele wie mich gab es nicht, Leute, die eine Zeitung wollten, aber rechnen konnten, die die Erfahrungen anderer Druck- und Medienbetriebe ernst nahmen. Ich war im Kreis der taz-Gründer und -Gründerinnen einer der wenigen, der nicht Leitartikel und Kommentare schreiben – und auch nicht die Weltlage erklären wollte.“ Um ihn herum damals fast nur: Journalisten und Journalistinnen, angehende und schon ausgebildete, allesamt leidenschaftlich genug, das Unmögliche zu planen: eine Tageszeitung, die mehr ist als ein in einer Druckerei geheftetes Bündel an Flugblättern. Es galt, mit einer Zeitung jene Sichtweisen öffentlich zu machen, die damals in keinem anderen Blatt Gnade fand. Neue Bewegungen mit neuen Fragen: feministisch, ökologisch, kulturell, friedensstiftend, anders als die anderen. Mehr Punk als Staatstragenheit, ob nun konservativ oder sozialdemokratisch.

Aber in all die guten Ideen musste eine ökonomische Basis gezogen werden, von der Journalist:innen eher arm an Kenntnis sind: Wie lanciert man ein Produkt, ohne das große Kapital im Hintergrund? „Journalisten machen sich ja mit der Kneifzange die Hosen zu“, sagt Kalle Ruch erinnernd. Was wohl heißen so: Für das Kleinklein des Täglichen, für Dinge wie die Vertriebsstruktur, das Abo-Wesen, die Organisation des wirtschaftlichen Fundaments waren sie sich in gewisser Weise zu fein.

Er hat immer die taz als Projekt im Visier gehabt: Was ist ihr nützlich, wo liegen ihre Chancen? Als es noch darum ging, die alternative Zeitung zu gründen, war beim Mainstream der taz-Initiator:innen völlig klar: Der Stand muss Frankfurt am Main sein. In der Mitte der Bundesrepublik gelegen, Geistesgrößen dort sondergleichen, Buchmesse, Suhrkamp und andere Buchverlage … Frankfurt – das war das Flair der Intellektualität, der Diskurse und Debatten, der Westen Berlins hingegen eher das geistige Trottoir mit Straßenkämpferappeal. Mit Ruppigkeitsbonus.

Die taz, um die es ging, sollte an die FAZ, den klassisch-bürgerlichen Zeitungsdampfer, heranreichen, ihm die Dominanz streitig machend. Doch während einer Sitzung gab Kalle Ruch, der sich in ideologischen Hader nie einzumischen pflegt, schon damals nicht, strikt betriebswirtschaftlich zu bedenken, Westberlin sei womöglich besser. Nicht weil es so szenig, randständig, punkig oder sonst wie undergroundig war – nein, weil es dort Subventionen für die schiere betriebliche Existenz gab. Wieder also – das Ökonomische. Am Ende hat sich Ruch durchgesetzt: Die taz siedelte in der abgewracktesten Stadt.

Immer hat er also die taz und ihren Nutzen im Blick. Um dies mit einem eher aktuellen Beispiel zu illustrieren: Am Morgen nach der Wahl Donald Trumps, als der taz-Mainstream im Haus, vor allem die Redaktion, sich auf die „Oh, alles wird schlimm“-Tonalität verlegt hatte, schwer betroffen, sagte Kalle Ruch nur: „Das ist gut für die taz.“ Es bedeute nämlich, viel berichten zu können, die wache Community des Hauses zu mobilisieren und neue Leser:innen zu gewinnen. Und also Umsätze, Erlösquellen, mithin Zukunftssicherheiten.

Politisch ist Kalle Ruch im Übrigen kein Linker im Sinne rötlichster Gerechtigkeitsideen, viel mehr ein Öko, der an jeder ökologischen Transformation interessiert ist, fundamental. Er liebt Verhältnisse, so könnte man formulieren, die die Verhältnisse zum Tanzen bringen, nicht das Vergangene konservieren wie etwa Rot-Rot-Grün, und sei es unter grüner Führung. Das Projekt, dem er vermutlich am ehesten zuneigen würde, wäre Grün-Schwarz – weil es interessant wäre für Staat und Gesellschaft. Vor allem aber für die taz wäre dies interessant, weil unübersichtlich und unerwartbar. Verflüssigte Freund-Feind-Linien inklusive.

Dass die taz mehr als vier Jahrzehnte existiert, war, so gesehen, kein Selbstläufer, sondern auch ein Ergebnis klugen Schachspiels im Mediengewerbe: Die ersten Soliabos – ein frühes Crowdfunding; die Gründung der taz-Genossenschaft in den beginnenden neunziger Jahren – eine Art Community-Building, und das 20 Jahre bevor andere Medien darauf kamen, Leser:innenforen zu organisieren.

All diese kleineren und größeren Aufbauleistungen gehen nicht auf irgendein fantasiertes Genie Kalle Ruch zurück, aber er hat die Chancen in den Ideen, die in der taz geboren werden, meist richtig erkannt und extrem befördert. Sein Modus Operandi war irgendwie wie sein real zu beobachtendes Gehen, vorsichtig, aber nicht schlendernd, eher sacht und suchend, eine Motorik wie in der Tempo-30-Zone.

Wozu auch, ganz Trüffelsucher, die Entdeckung des juristischen Talents und damaligen No-Name Olaf Scholz gehörte: Der hatte sich auf Genossenschaften spezialisiert, die gerade für linke Projekte interessant seien. Mit dem heutigen Bundesfinanzminister zimmerten Ruch & Co ein genossenschaftsbasiertes Unternehmensmodell. Am Ende war die taz so konstruiert, dass die Basis tatsächlich das letzte Wort hat – und das Medienhaus selbst gefeit ist, von Investoren aufgekauft zu werden. Die taz, so Ruch, muss immer ihr Geschick in eigenen Händen halten, um zu überleben.

„Viele wie mich gab es nicht, Leute, die eine Zeitung wollten, aber rechnen konnten. Ich war im Kreis der taz-Gründer einer der wenigen, der nicht Leitartikel und Kommentare schreiben – und auch nicht die Weltlage erklären wollte“

Karl-Heinz Ruch

Er hat früh erkannt, dass das mit der gedruckten Zeitung historisch ein Ende haben wird: ­Gegen die Digitalisierung ist kein Ankommen. Und er hat besonders die digitale Transformation gefördert, die Internetpräsenz der taz auf taz.de und später auch das taz-zahl-ich-Modell – teils gegen Widerstände im Haus.

Er ist, so gesehen, ein Aufbauhelfer und Aufbauorganisator. Wo keine Chancen sind, findet er doch welche. In den achtziger bis neunziger Jahren gab es nationale taz-Plena, auf denen Kalle Ruch heftig angefeindet wurde. Der muss weg, der macht seinen Job nicht gut, der gibt die Mittel für Expansionen auf dem Markt nicht frei, später gar hieß es, er lasse es nicht zu, dass millionenschwere Investoren die taz füttern oder sie aufkaufen.

Hat ihn das nicht manchmal Nerven gekostet? Er antwortet nur mit einem eher wegwischenden Wort: „Oooch“. Soll wohl heißen: Das war einmal, begrabene Kämpfe. Und heute sei es doch so: „Gucke man sich mal die taz an“, und er weist mit den Armen auf das neue taz-Haus an der Friedrichstraße, sein – vorläufig – letztes Aufbauwerk, „ist doch alles wohlgeraten, die Kollegen und Kolleginnen arbeiten in einem schönen Haus in einem zukunftsfesten Unternehmen“. Und dann die „vielen jungen Leute hier, es gibt einfach tollen Nachwuchs“. Er lächelt bei diesen knappen Sätzen, die bei ihm schon einem Ausbruch an Euphorie gleichkommen, sein typisches Kalle-Lächeln: jungenhaft und schüchtern. Er ist, man muss es so sagen, ein Architekt alternativen Gelingens – denn es gebe immer Alternativen zum Naheliegenden.

Womöglich wäre er gern Architekt geworden, ein Konstrukteur interessant und schön anzusehender Gebäude. Er ist taz-Geschäftsführer geworden, weil er es konnte und alle anderen nicht. Er hat sich die richtigen Buddies gesucht und gefunden. Er nennt die Chefin und Aufbauerin der taz Genossenschaft, Konny Gellenbeck, die Seele der taz – was auch richtig ist. Nicht minder zutreffend ist, dass Kalle Ruch den Spirit der taz wesentlich mitgeprägt hat – und das Medienhaus in eine Zukunftsfähigkeit gelotst hat, wie es niemand in der Branche je erwarten wollte. Er liebt, so berichten es ihm Nahestehende, seine Frau und seine drei Kinder, lebt gern in seiner Hütte im Brandenburgischen. Und kann außerdem mit dem Wort Karriere nicht viel anfangen: „Wir wollten die taz ins Leben rufen. Das ist uns gelungen. Bis heute.“ Und noch viel länger.

Er könnte solche Sätze mit fettem Pathos unterstreichen, aber das ist nun nicht seine Art. Er hat den leisesten Gang aller im neuen taz Haus, er tritt nicht auf, um mit dem Körper Anwesenheit aufzustampfen. Er gehe, so ausdrücklich sagt er es nicht, aber man muss ihn so verstehen, hochzufrieden in den Ruhestand und wird sich bekennenderweise nicht in die weiteren Geschäfte des Hauses einmischen.

Eine alternative Laufbahn hat er dann hingelegt, die im Look kaum Änderungen brachte, stets trug und trägt er Jeans und farblich eher lichtarme Hemden, Jackets außerordentlich selten. Man verabschiede ihn wie auch immer, das hört man von langjährigen Weggefährt:innen, nicht zu pompös – vor allem nicht mit Blumen: Er fände jede blumensatte Wiese gut, aber Bouquets? Irre unpassend.

Zwei Dinge hat er noch zu erledigen, so verriet er vor Monaten einem Medienbranchendienst, vielleicht nimmt er sie ins neue Jahr mit – ein Wohnhaus mit günstigen Mieten für taz-Kolleg:innen, deren Renten nicht ausreichen, um in Berlin leben zu können. Und das Queere Kulturhaus, das im alten taz Haus an der Rudi-Dutschke-Straße siedeln will.

Kalle Ruch hat das alternative Motto aller Projekte am glühendsten für möglich gehalten: Wir haben keine Chance, drum nutzten wir sie.

Jan Feddersen, 62, ist Redakteur für besondere Aufgaben und Kurator des taz lab. Er findet Kalle Ruch nie langweilend und seine „Querdenkerei“ interessant, weil sie nichts anderes als Fähigkeit zum eigenen Urteil ist – und weil er das taz lab von Anfang an gefördert hat.

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