Die Wahrheit: Alles Schwindel
Eine Straße. Nacht. Wirklichkeit. Oder eine konstruierte Welt. Mit Tricks erzeugt. Wie die Begleitung an seiner Seite. Auch ein Versuchsobjekt.
S elbst wenn allgemein bekannt ist, wie leicht die Illusion, man existiere als „Mensch“ mit einem eigenen Körper in einer „Welt“, mittels einfacher Tricks zu erzeugen ist, liegt das tatsächliche Wesen dieser Dinge doch völlig im Dunkeln. Deshalb weiß man, besonders bei Nacht, oft auch gar nicht, wie man in bestimmte Situationen oder Gegenden geraten ist.
So erging es mir, als ich einmal nachts mit einer fremden Begleiterin unterwegs war. Ohne Weiteres konnte alles eine wodurch auch immer herbeigeführte Einbildung sein. Etliche Artgenossen haben schon gewähnt, wer weiß was zu sein und zu erleben, obwohl sie in Wirklichkeit bloß Versuchsobjekte waren, die in einem Labor der Graafschen Heilanstalt mit Gummipuppen und Elektronik genarrt wurden.
Meine Begleiterin war unfähig, mich zu ernähren, indem sie mir ihre Zunge in den Hals steckte, und umgekehrt vermochte ich sie nicht durch lediglich geträumte Unterleibsfunktionen am Leben zu erhalten. Es schien deshalb innerhalb des uns insinuierten Realitätsrahmens geraten, ein Speiselokal aufzusuchen, wo gegen Bezahlung sogenanntes Essen bestellt und verzehrt werden konnte. Wer an weiteren Informationen über diese Zusammenhänge interessiert ist, sei auf das Thema „Verdauung bei Säugetieren“ verwiesen.
Unser Bedürfnis führte uns zu einem Restaurant. Jemand hatte gut sichtbar „Hier können Sie essen wie die Toten“ neben der Eingangstür auf die Mauer geschrieben. „Dass das noch niemand entfernt hat“, wunderte sich meine Begleiterin. Ich brachte einen Erklärungsversuch vor: „Vielleicht ist die Inschrift so neu, dass sie außer uns noch niemandem aufgefallen ist.“
Lieber esse ich Blumenerde
„Unwahrscheinlich“, sagte meine Begleiterin. Um sich zu vergewissern, zog sie ein kleines Gerät aus der Jackentasche, mit dem sie das Alter der Buchstaben feststellen konnte. „Zwischen vier und fünf Jahre“, las sie von der Skala ab. „Die Inhaber des Lokals scheinen den Spruch zu mögen. Zumindest dulden sie ihn.“ Mein Urteil lautete: „Das spricht kaum für ihre Seriosität. Meinen Appetit fördert so etwas jedenfalls nicht. Lieber esse ich Blumenerde.“
Hungrig zogen wir uns in unsere Fremdenzimmer mit Meerblick zurück. Vor dem Zubettgehen wurde mir bewusst, dass ich meinen Leitfaden für orthodoxen Schlaf nicht dabei hatte. Weil ich infolgedessen unfähig war zu schlafen, blieb ich wach und sah missmutig aufs Meer hinaus. Ein Ruderboot näherte sich dem Strand. Anscheinend kam es von dem alten Kriegsschiff, das vor der Küste ankerte. Noch bevor das Boot anlegte, lief ihm meine Begleiterin entgegen. Ihre Unterschenkel wurden in der Brandung nass. Sie stieg ins Boot, ohne dass der Ruderer ihr dabei helfen musste.
Unwillkürlich stürzte ich hinaus, doch da war niemand mehr, auch kein Boot und keine See. Mitten im Weltuntergang stand ich unter dem schlammbedeckten Himmel und drehte wild an den Reglern meines Bewusstseins.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Gastbeitrag in der „Welt am Sonntag“
Bequem gemacht im Pseudoliberalismus