EU-Migrationspolitik in Afrika: Abschottung als Wachstumsmarkt

Die EU verhandelt ihr Budget neu. Grenzschutz außerhalb Europas wird ausgebaut. Migrationskontrolle bestimmt die Entwicklungszusammenarbeit.

Drei Männer sitzen nebeneinander und sind an eine Wand gelehnt

Afrikanische Migranten in Misrata, von der libyschen Küstenwache für die EU abgefangen (Okt. 2019) Foto: reuters/Ayman Al-Sahili

BERLIN taz | Es fiel Judith Sargentini nicht schwer, misstrauisch zu werden: Vor genau zwei Jahren war die niederländische Grünen-Politikerin als Beobachterin beim Gipfel von Europäischer und Afrikanischer Union in der ivorischen Hauptstadt Abidjan dabei gewesen. Hautnah bekam sie mit, wie die europäischen und afrikanischen Staatschefs sich so entzweiten, dass nicht einmal eine dürre Abschlusserklärung möglich war. Einer der Hauptstreitpunkte: der Umgang mit Abschiebungen.

Nur zehn Wochen später machte Äthiopien als erster afrikanischer Staat der EU in dieser Frage weitreichende Zugeständnisse. Unter anderem verpflichtete es sich, innerhalb kurzer Frist Reisepapiere auszustellen, wenn europäische Ausländerbehörden ÄthiopierInnen abschieben wollen. Genau das hatten die afrikanischen Länder bei dem Gipfel in Abidjan noch kategorisch abgelehnt, wusste Sargentini. Sie wollte in einer Anfrage wissen: „Wie erklärt der Rat die plötzliche kooperative Haltung Äthiopiens?“

Die Antwort erhielt sie im Juni 2018. Die EU habe dafür mit Äthiopien „mittels der finanziellen Instrumente“ zusammengearbeitet, hieß es. Sie hat, soll das heißen, die Zustimmung gekauft.

Wie das gelaufen ist, lässt sich ziemlich genau rekonstruieren. Am kommenden Montag jährt sich zum vierten Mal der Gipfel von Valletta. Bei diesem Treffen hatte die EU 2015 versucht, über 30 afrikanische Staaten zu einer Art Generalabkommen in Sachen Flüchtlingsstopp zu bewegen. Dazu legte sie den EU Emergency Trust Fund for Africa, abgekürzt EUTF, auf. Mittlerweile sind in diesen Fonds rund 4,6 Milliarden Euro geflossen – gespeist vor allem aus europäischen Entwicklungsmitteln. Offiziell dient der EUTF dazu, „Fluchtursachen zu bekämpfen“ und „Migration besser zu steuern“.

EUTF: Emergency Trust Funds for Africa, „Nothilfefonds für Afrika“. 2015 aufgelegt, mit 4,6 Milliarden Euro aus Entwicklungshilfe, um Migration zu steuern.

NDICI: Neighbourhood, De­velopment and International Cooperation: neues „außenpolitisches Instrument“ der EU, ersetzt u. a. Entwicklungshilfe­etat, Laufzeit 2021–2027, soll 89,3 Milliarden Euro für Nach­barschaftspolitik und internationale Kooperation der EU umfassen.

IBMF: Integrated Border Management Fund, „EU-Grenzschutzfonds“, Laufzeit 2021–2027, soll 9,3 Mrd. Euro für Grenzschutz in- und außerhalb der EU umfassen.

Im Fall von Äthiopien hieß das: Das Land bekam nach dem Valletta-Gipfel für kurze Zeit Geld. Dann folgte eine lange Pause, fast das ganze Jahr 2017 –solange die Emissäre der EU-Außenkommissarin Federica Mogherini die Abschiebekooperation aushandelten.

Ein später geleaktes Dokument zeigt, dass sich EU und äthiopische Unterhändler in einer „stillen Übereinkunft“ am 6. Dezember 2017 auf das Rücknahmeabkommen einigten. Und sofort drehte die EU den Geldhahn auf: Nur sechs Tage später wurden 38 Millionen Euro aus dem EUTF für Äthiopien bewilligt, insgesamt bekam das Land seither über 168 Millionen: Entwicklungshilfe als Lohn für die Migrationskontrolle.

Wo bislang der EU-Entwicklungskommissar entschieden hat, reden künftig auch die Innenpolitiker mit, wem geholfen wird

Neu ist es in der Entwicklungszusammenarbeit keineswegs, Hilfe an Gegenleistungen zu knüpfen. Doch das Ausmaß, das diese Konditionalität nun annehmen soll, hat es in sich. 2020 endet die laufende, siebenjährige Haushaltsperiode der EU. Parlament und Kommission verhandeln darüber, wie viel Geld Brüssel bis 2027 ausgeben darf. Für alles, das Flüchtlinge fernzuhalten hilft, sind enorme Summen angedacht. Und wer sein Flüchtlingsproblem auf viele andere Staaten verteilen will, der braucht dafür vor allem: Geld.

Der Entwicklungsfonds verschwindet

Der alte Haushalt sei zu unflexibel für „Herausforderungen wie die Migrations- und Flüchtlingskrise im Jahr 2015“ gewesen, hatte der alte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker erklärt. Die neuen Budgetpläne seien eine „ehrliche Antwort auf die Wirklichkeiten unserer Zeit“.

Und das bedeutet: Für Entwicklungshilfe ist künftig kein eigenes Budget mehr vorgesehen – der EU-Entwicklungsfonds EDF verschwindet. Er geht, wie andere Einzelbudgets auch, auf im „außenpolitischen Instrument“ für „Nachbarschaft, Entwicklung und Internationale Kooperation“ (NDICI). Das soll mit bis zu 93 Milliarden Euro ausgestattet werden.

Rund ein Zehntel davon wird für Migrationsmanagement bestimmt sein, schätzt Pauline Veron vom European Centre for Development Policy Management in Brüssel. Ziele der Entwicklungszusammenarbeit dürften in den Hintergrund treten, fürchtet sie. „Die eigenen politischen Interessen haben Vorrang.“

Neue Boote aus Italien

Am vergangenen Samstag feierte die libysche Marine ihren 57. Geburtstag auf der Basis Abu Sitta in Tripolis. Als Geschenk gab es zehn neue Patrouillenboote aus Italien – die hatte im Sommer der damals noch amtierende Innenminister Matteo Salvini versprochen und bezahlt.

Ein Bild des australischen Bloggers Rob Gowans zeigt die weißen Boote, fein säuberlich nebeneinander vertäut an der Kaimauer. Sie tauchten genau an dem Tag auf, an dem ein Memorandum verlängert wurde, das Italien Mitte 2017 mit Tripolis unterzeichnet hatte. Seitdem fangen libysche Milizen und sogenannte Küstenwächter Flüchtlinge und MigrantInnen auf dem Mittelmeer wieder ein. Allein im Oktober brachten sie 1.113 Menschen zurück in die libyschen Lager, rund 38.000 waren es seit Inkrafttreten des Memorandums.

Es ist faktisch ein europäisches Arrangement, für das Italien maßgeblich gesorgt und viel bezahlt hat. Mit dem NDICI sollen Hilfen wie die Boote für Grenzschützer außerhalb der EU künftig unkompliziert von Brüssel finanziert werden können. „Mit Geldern für Entwicklungshilfe wäre das nicht zulässig“, sagt Vernon. „Brot für die Welt“ äußerte sich besorgt, „dass Entwicklungsgelder in Zukunft weniger den ärmsten und bedürftigsten Ländern zugutekommen als viel mehr strategisch relevanten Ländern, die bereit sind, an der Migrationsabwehr mitzuwirken“.

Parallel dazu will die EU zwei bestehende Grenzschutzfonds in einem neuen Instrument namens IBMF zusammenfassen und von 2,7 auf bis zu 8,1 Milliarden Euro aufstocken. Schon bislang wurden aus diesen Haushalten Kameras, Radar, Ferngläser oder Drohnen bezahlt – allerdings für die Grenzschützer der EU-Staaten selbst. „Drittstaaten können in Zukunft direkt Geld aus dem Grenzschutzfonds bekommen“, sagt Estela Casajuana von der NGO Profundo in den Niederlanden.

Niger muss bei Laune gehalten werden

Was mit all diesem Geld geschehen soll, das lässt sich gerade etwa im Sahel-Staat Niger beobachten. Unter anderem hat Niger sich als Parkplatz für evakuierte Flüchtlinge aus Libyen zur Verfügung gestellt, die die EU – jedenfalls vorerst – nicht selber aufnehmen will. 27 Millionen Euro hatte das UN-Flüchtlingswerk UNHCR dafür aus dem EUTF bekommen. Etwa 2.900 Flüchtlinge haben nach UN-Angaben bislang davon profitiert – und auch eine erkleckliche Zahl nigrischer Staatsdiener.

Die Nationalgarde bewacht – gegen Bezahlung – das UNHCR-Camp für die aus Libyen Evakuierten im Wüstenort Hamdallaye. Von der Grenzpolizei müssen sich diese alle sechs Monate neue Visa ausstellen lassen, der UNHCR zahlt. Der nigrische Nachrichtendienst DRG eruiert in einer „enquête de moralité“, ob es sich bei Flüchtlingen etwa um Trinker handelt, auch dafür zahlt der UNHCR.

Eine nationale Asylkommission wurde aufgestockt, um für die Evakuierten ein nigrisches Asylverfahren durchzuführen, obwohl die Menschen eigentlich in die EU ausreisen sollen. Für die aus nicht weniger als 14 Ministerien zusammengestellten Mitglieder der Asylkommission lohnt sich die Sache: Ihre Aufwandsentschädigungen wurden auf umgerechnet etwa 80 Euro pro Tag fast verdoppelt.

Für die Evakuierten ist das Projekt ohne Zweifel ein Segen. Und dass Niger, das genug eigene Probleme hat, sich von Europa für die Sache bezahlen lässt, ist völlig legitim. Doch gleichzeitig dient das Projekt der EU dazu, ihre eigene unselige Rolle zu verschleiern: Schließlich bezahlt sie die Libyer dafür, die Menschen überhaupt erst in die Lager zu bringen, aus denen der UNHCR sie dann befreit.

Niger muss bei Laune gehalten werden, damit das möglich ist. Und dazu wird europäische Entwicklungshilfe für Dinge ausgegeben, die nichts mit Entwicklung, aber sehr viel mit Migrationsabwehr zu tun haben. Das neue EU-Budget soll genau solche Ausgaben unkompliziert möglich machen.

Kein Land hat der EU in Sachen Migrationsmanagement in den letzten Jahren wertvollere Dienste geleistet als Niger. Polizei und Militär kappten die Hauptroute durch die Wüste, von der Grenzstadt Agadez nach Libyen, die 2016 noch rund 300.000 Flüchtlinge und MigrantInnen genommen hatten. Niger wurde dafür mit mehr als einer Milliarde Euro schweren Budgethilfen und Entwicklungsprojekten bedacht. Allein an Innen-, Justiz- und Verteidigungsministerium flossen insgesamt 80 Millionen Euro.

Immer mehr Tote in der Sahara

Weniger schön war diese Kooperation für jene, die versuchen nach Europa zu gelangen. „Wir gehen davon aus, dass vermutlich mindestens doppelt so viele Menschen auf dem Weg zum Mittelmeer sterben als im Mittelmeer selbst“, sagte der Sondergesandte des UNHCR für das Mittelmeer und Libyen, Vincent Cochetel, am Sonntag der Welt (siehe Interview). Die Zahl der Todesopfer könne aber „auch viel höher sein“.

Neben dem „außenpolitischen Instrument“ und dem Grenzschutzfonds gibt es noch einen dritten, erklecklichen Haushaltsstrang, der helfen soll, Europa abzuschotten: das Budget für die EU-Grenzschutzagentur Frontex, die mittlerweile als „Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache“ firmiert. 333 Millionen Euro darf sie nach eigenen Angaben in diesem Jahr ausgeben – künftig soll es nach dem Willen der EU-Kommission deutlich über eine Milliarde sein. „Das erhöht natürlich auch die Fähigkeit, außerhalb der EU agieren zu können,“ sagt Jane Kilpatrick von der Londoner NGO Statewatch.

Der erste Nicht-EU-Staat, in dem Frontex agiert, ist seit Mai 2019 Albanien. Im Sommer waren dort 66 Grenzschützer aus zwölf EU-Mitgliedstaaten im Einsatz, darunter elf Bundespolizisten. Albanien hat ihnen „hoheitliche Befugnisse“ eingeräumt. Im Oktober wurde ein vergleichbares Abkommen auch mit dem Nicht-EU-Staat Montenegro unterzeichnet. Weitere Verhandlungen laufen mit Nordmazedonien, Serbien sowie Bosnien und Herzegowina. Dabei dürfte es nicht bleiben. 10.000 eigene Grenzschützer will Frontex bis 2027 einstellen.

Frontex finanziert Abschiebungen

Doch der Frontex-Etat wird nicht nur dafür aufgestockt. Am 19. August wurden 19 NigerianerInnen vom Flughafen Frankfurt mit der Chartergesellschaft Titan Air nach Lagos geflogen. An Bord waren 84 Bundespolizisten, ein Arzt und eine Sanitäterin. Sieben der NigerianerInnen wurden dabei „zwischen drei und elf Stunden“ gefesselt, das gab das Bundesinnenministeriums in der Antwort auf eine Anfrage der Linken an.

Die Aktion kostete 298.000 Euro – bezahlt hat nicht Deutschland, sondern Frontex. Insgesamt hat die Agentur 14 von 15 in diesem Jahr aus Deutschland gestarteten Abschiebeflüge nach Nigeria organisiert und teils finanziert.

Bislang konnte Frontex nach Statewatch-Recherchen etwa 40 Millionen Euro im Jahr für solche Rückführungen ausgeben. In Zukunft sollen es rund 250 Millionen sein. Damit könnten etwa 50.000 Abschiebungen pro Jahr finanziert werden.

Damit die Mittel auch in Anspruch genommen werden, müssten alle EU-Staaten künftig die Daten ausreisepflichtiger AusländerInnen automatisiert an Frontex übermitteln. Bislang schicken sie nur auf freiwilliger Basis Excel-Tabellen. Auf dieser Grundlage soll Frontex schneller Sammelabschiebe-Charter initiieren und abwickeln können, um die sogenannte Ausreisequote zu erhöhen. Zuletzt lag sie nach Angaben der EU-Kommission bei etwa 36 Prozent – von 100 Ausreisepflichtigen verlässt also jeder Dritte innerhalb eines Jahres die EU.

Grenztechnologie – ein Weltmarkt

„Wenn es darum geht, Geflüchtete aufzunehmen und ihnen Schutz zu gewähren, können die EU-Staaten sich nicht auf ein gemeinsames Vorgehen einigen. Beim sogenannten Schutz der Außengrenzen haben sie jedoch keine Schwierigkeiten, einen gemeinsamen Nenner zu finden“, sagt dazu die Linken-Abgeordnete Ulla Jelpke. Frontex werde zu einer „Mammutbehörde, die künftig auch außerhalb der EU eingesetzt werden soll“.

Noch bis zum Sommer könnten sich die Haushaltsverhandlungen in Brüssel hinziehen. Am Ende wird ein zweistelliger Milliardenbetrag stehen, um Unerwünschte fernzuhalten. Ausgaben der einzelnen Mitgliedsstaaten sind da noch nicht eingerechnet. Wo so viel Geld ist, ist auch ein Geschäft.

Am Dienstag legte der Forscher Mark Kellermann vom Transnational Institute in Amsterdam seine neue Studie „The Business of building walls“ vor. 2018, schreibt Kellermann, hatte der Weltmarkt für Grenzschutztechnologie – vom Klingendraht bis zur Hightechdrohne – ein Volumen von 17,5 Milliarden Dollar, für die kommenden Jahre sei mit einer Wachstumsrate von mindestens acht Prozent zu rechnen. Allein Frontex könne in den kommenden Jahren 2,2 Milliarden Euro für Material ausgeben.

Ulla Jelpke, Die Linke

„Frontex wird zu einer Mammutbehörde, die auch außerhalb der EU eingesetzt werden soll“

Die Industrie habe durch ihre Lobbyaktivitäten die starke Ausweitung der öffentlichen Ausgaben für Grenzsicherheit in Europa sowohl angeheizt als auch von ihr profitiert, schreibt Kellermann. Statt dass der Blick sich auf die humanitäre und politische Krise richte, die hinter der Abschottung stehe, würden die „Big Player“, Rüstungskonzerne wie Airbus, Leonardo und Thales, dafür sorgen, dass Politik die Abschottung als Wachstumsmarkt begreife – und sich für noch mehr Abschottung einsetzen.

Ob sich das ganze für die Innenminister genauso lohnt wie für die Rüstungskonzerne ist indes fraglich. Äthiopien etwa hatte zwar seinerzeit das Rücknahmeabkommen unterschrieben – sich danach aber keineswegs so willfährig gezeigt, wie die EU gehofft hatte. Das Land wird mittlerweile von dem Hoffnungsträger und diesjährigen Friedensnobelpreisträger Abiy Ahmed regiert – und die Abschiebezahlen sind kaum gestiegen. „Die EU ist frustriert darüber, dass Äthiopien bei der Rückkehr nicht zusammengearbeitet hat, während Äthiopien enttäuscht ist, dass die EU wenig in Bezug auf die legale Migration angeboten hat“, schreibt Clare Castillejo vom Deutschen Institut für Entwicklungspolitik dazu.

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