„Die Lage ist extrem konfliktiv“

Boliviens früherer UN-Botschafter Pablo Solón erklärt, warum der Streit um die Präsidentschaftswahl jetzt kaum noch zu lösen ist

Minenarbeiter demonstrieren für Präsident Evo Morales, La Paz, 30. Oktober Foto: Kai Pfaffenbach/reuters

Interview Knut Henkel, La Paz

taz: Herr Solón, auch zwei Wochen nach den Präsidentschaftswahlen vom 20. Oktober gehen die Proteste in Bolivien weiter. Wie beurteilen Sie die Situation?

Pablo Solón: Sie ist nach mehr als zwei Wochen der Proteste in einer Vielzahl von Städten, nach etlichen Straßenblockaden und Kundgebungen extrem angespannt. Letzte Woche sind zwei Männer gezielt erschossen wurden, rund 200 Verletzte wurden bisher gezählt. Und mittlerweile geht es bei den Protesten nicht mehr wie in den ersten Tagen darum, eine Stichwahl durchzusetzen.

Sondern?

Die Forderungen lauten: Annullierung der Wahl vom 20. Oktober aufgrund von Wahlbetrug, Rücktritt von Präsident Evo Morales und Vizepräsident Álvaro García Linares sowie Neuwahlen am 15. Dezember – allerdings ohne den Kandidaten Evo Morales.

Die Kommission der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) hat die Arbeit aufgenommen und überprüft den Urnengang vom 20. Oktober – warum sorgt das nicht für etwas Ruhe?

Weil die OAS-Experten kein umfassendes Mandat haben. Es gibt keine Übereinkunft mit der Opposition, sie wurde schlicht nicht eingebunden, weshalb die Lage extrem konfliktiv ist, sie kann sich von Tag zu Tag oder auch von Stunde zu Stunde ändern.

Haben Sie persönlich Vertrauen in die OAS-Kommission, die das Wahlergebnis überprüfen soll?

Leider nein, denn die Kommission hat ihre Glaubwürdigkeit verloren.

Warum?

Foto: Knut Henkel

Pablo Solón war von 2009 bis 2011 UN-Botschafter der bolivianischen Regierung. Er vertrat Bolivien auch beim Klimagipfel in Kopenhagen. Von von 2012 bis 2015 leitete er die NGO Focus on the Global South. Derzeit ist er Direktor der Umwelt- und Kunststiftung Solón und gehört zu den profiliertesten Kritikern der Regierung Morales.

Weil der Generalsekretär der OAS vor den Wahlen nach Bolivien gekommen ist und sich positiv zur potentiellen Wiederwahl von Evo Morales geäußert hat, obwohl es das Referendum vom 21. Februar 2016 gab. In dem hat sich eine knappe Mehrheit gegen die Verfassungsänderung ausgesprochen, die Evo Morales eine weitere Amtszeit ermöglichen sollte. Das war ein Votum der Bevölkerung gegen seine potentielle Wiederwahl. Deshalb zweifeln viele Bolivianer heute die Unabhängigkeit der OAS an, da das Referendum für den Generalsekretär der Organisation keine Relevanz hatte.

Was halten Sie von dem Vertrag, der mit den OAS-Wahlbeobachtern ausgehandelt wurde, um dem Vorwurf des Wahlbetrugs nachzugehen?

Wenig, denn er wurde schließlich nur mit einer der Konfliktparteien ausgehandelt und unterzeichnet: mit der bolivianischen Regierung. Die beziehungsweise deren Präsident kandidiert bekanntermaßen für die Wiederwahl und da teile ich die Kritik der Oppositionsparteien, die argumentieren, dass ein derartiges Abkommen mit allen beteiligten Parteien ausgehandelt werden muss. Zudem sollen bei der Überprüfung nur der eigentliche Wahltag und die Tage danach berücksichtigt werden, nicht aber die Zeit davor. Da wurde das elektronische Auszählungssystem installiert.

Bei dem laut den Informatikern der Universidad Mayor de San Andrés (UMSA) zahlreiche Unregelmäßigkeiten festgestellt wurden?

Genau. Obendrein gibt es in dem Abkommen mit der OAS einen Passus, wonach die Regierung das Abkommen jederzeit kündigen kann. Sie ist nicht daran gebunden.

Gibt es einen potentiellen Vermittler, um den Konflikt beizulegen? Könnte das etwa die katholische Kirche sein?

Das Problem ist, dass die Regierung weder Dialogbereitschaft gezeigt hat noch Interesse an einer Vermittlung. Das sorgt für wenig Hoffnung auf eine friedliche Lösung des Konflikts.

Am 20. Oktober wurde in Bolivien ein neuer Präsident gewählt. Amtsinhaber Evo Morales trat noch einmal an, obwohl die Verfassung das eigentlich verbietet und eine von ihm angestrebte Verfassungsänderung, um die erneute Kandidatur zu ermöglichen, 2016 in einem Referendum abgelehnt wurde. Der oberste Gerichtshof gab allerdings seiner Klage nach, das Verbot einer Kandidatur beschränke unzulässig seine Bürgerrechte. Bei der Wahl musste er mindestens 40 Prozent der Stimmen und mindestens 10 Prozentpunkte Abstand zum zweitplatzierten Kandidaten erringen, um ohne Stichwahl wiedergewählt zu sein. Nach Tagen des Auszählens gab die Wahlbehörde ein knappes dementsprechendes Ergebnis bekannt. Die Opposition allerdings sah viele Anzeichen für Wahlbetrug und mobilisierte auf der Straße. Die Organisation Amerikanischer Staaten übernahm die Aufgabe, die Wahlvorgänge zu überprüfen. Ihre Ergebnisse stehen noch aus. (pkt)

In La Paz protestieren Nachbarn gemeinsam, sperren ihre Straße friedlich ab, aber es hat auch den Anschein, als ob eine neue Generation auf den Straßen unterwegs ist, stimmt das?

Das deckt sich mit meinen Eindrücken. Eine Jugend, die protestiert, die aber auch Respekt einfordert. Respekt für ihre an der Wahlurne eingeworfene Stimme. Das ist auf Transparenten immer wieder zu sehen und die anhaltenden Proteste zeigen, dass sich die Menschen nicht ein weiteres Mal ihre Stimme nehmen lassen wollen. Das ist das Kernproblem: Hätte Evo sich nicht über das Votum vom 21. Februar 2016 hinweggesetzt, wäre das alles nicht passiert. Dann hätte er 2025 wieder antreten können. Doch das hat ihm nicht gereicht.

Warum dieser Hang zur Macht?

Gute Frage, aber die kann ich nicht beantworten. Macht verändert Menschen und ich habe mit Evo Morales seit Jahren keinen Kontakt mehr.