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: anthroposophie

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Zuwendung schafft Zeit

Ambulante Pflege hat nicht das beste Image. Dass es anders geht, zeigen anthroposophische Dienste

Pflege im Akkord – ein Albtraum für alle Menschen, die auf die ambulante Hilfe angewiesen sind, und auch die oft hochmotivierten Pflegekräfte leiden darunter, von einem Klienten zum nächsten hetzen zu müssen. Wie gehen anthroposophisch orientierte Pflegedienste mit diesem Dilemma um?

Der ganzheitliche Ansatz scheint auf den ersten Blick nicht in eng getaktete, bürokratisch vorgegebene Zeitpläne zu passen. Jacqueline Goldberg leitet seit 12 Jahren gemeinsam mit einer Partnerin die Freie Pflege Praxis Ulm, in der rund 40 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt sind. Auf der Basis anthroposophischer Leitsätze hat sie gemeinsam mit ihren Angestellten einen besonderen Weg gefunden. „Das Geheimnis der Liebe ist Anwesenheit.“ Dieses Zitat der verstorbenen Theologin Dorothee Sölle ist nicht zufällig der Leitsatz der trägerfreien Praxis.

„Wenn wir zum Patienten kommen, ziehen wir Jacke und Schuhe aus, sagen guten Morgen und fragen, wie die Nacht war“, erzählt Goldberg. Das sind kleine Gesten, die nur wenige Sekunden in Anspruch nehmen – die aber eine große Wirkung haben: „Wir sind präsent, schenken dem Patienten unsere volle Aufmerksamkeit.“ Es werde sofort deutlich: Hier kommt ein Mensch. Der einen anderen Menschen pflegt und dessen Bedürfnisse zu jeder Zeit berücksichtigt.

Alle Mitarbeitenden der Praxis haben eine umfassende anthroposophische Zusatzausbildung, die praxisintern ein Jahr lang berufsbegleitend stattfindet und die Prinzipien und Methoden der anthroposophischen Pflege vermittelt, wie zum Beispiel die rhythmischen Waschungen und Einreibungen. Zusatzkosten fallen für die Patientinnen und Patienten dadurch nicht an.

Auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden in ihrer Ganzheit wahrgenommen und in belastenden Situationen jederzeit aufgefangen – durch Supervisionen. Ruhe und Entschleunigung für Pflegekräfte und Patienten stehen im Mittelpunkt der Pflegephilosophie. Und Mitsprache: „Wir leben das umgekehrte Führungsmodell“, erklärt Goldberg. „Die Angestellten sind meine Arbeitgeber, und ihre Arbeitgeber sind die Patienten.“

Extrem niedrige Krankenstände zeigen den Erfolg dieses Modells. Auch stressbedingte Autounfälle, die bei ambulanten Pflegediensten nahezu an der Tagesordnung sind, gibt es hier nicht. Der Pflegedienstleiterin ist wichtig: „Auch viele konventionelle Pflegedienste machen richtig gute Arbeit!“ Angesichts des Pflegenotstandes kann niemand Wunder vollbringen. Aber vielleicht ein wenig Nähe zeigen. Durch Anwesenheit. Cordula Rohde