Albanischer Fluss soll zerstört werden: So balzt der Balkanfrosch

Die albanische Vjosa ist ein intaktes Ökosystem. Olsi Nika will aus ihr den ersten Wildfluss-Nationalpark Europas machen – aber Tirana hat andere Pläne.

Mäandernder großer Fluss in grüner Landschaft

Ein Bild von einem Fluss: Die Vjosa fließt noch wie sie will Foto: imago/imageBROKER/Martin Siepmann

TIRANA taz | Die Sonne wirft goldene Lichtpunkte auf das Wasser. Der Fluss, breit heranströmend, drückt sich hier an einer Engstelle zwischen steilen Hügeln hindurch wie durch einen Flaschenhals, und nimmt dabei Fahrt auf. Der Anblick hat etwas Erhabenes. Aber die umliegenden Hänge sehen narbig aus. Sie sind gerodet worden, den darunterliegenden Kalkstein hat man in grobe Stufen geschnitten. Eine Betonmauer soll eines Tages die beiden getreppten Hügel dies- und jenseits des Flusses verbinden, den Flaschenhals verstopfen und den Fluss: stoppen.

Die Baustelle ist gespenstisch ruhig. Kein Arbeiter ist zu sehen, kein Hämmern und kein Bohren zu hören. Ein rostiger Bagger, behängt mit Treibgut, steht flussabwärts auf der Kiesbank. Ein Blick genügt, um zu sehen, dass das Ding schrottreif ist. „Den hat mal ein Hochwasser mitgerissen“, sagt Olsi Nika, ein junger Mann mit dunklen Haaren. „Hier ist schon seit zehn Jahren kein Spatenstich mehr gesetzt worden“, erklärt Nika und setzt fort: „Die Deutsche Bank hatte in das Projekt 120 Millionen Euro investiert, aber der italienische Investor hat es nie vollendet. Es sind kaum 30 Prozent der Arbeit erledigt worden.“

Während Nika das sagt, sieht sein freundliches, rundes Gesicht gar nicht unzufrieden aus. Der 33-Jährige ist Hydrobiologe, also Wasserexperte, und Leiter der albanischen Umweltschutzorganisation EcoAlbania. Die hat sich ein großes Ziel gesetzt: Dieser Fluss, die Vjosa, soll von der Quelle bis zur Mündung der erste Wildfluss-Nationalpark Europas werden. Und dazu muss der Kalivac-Damm unbedingt verhindert werden.

Die Vjosa ist einer der letzten wilden Flüsse Europas. Auf einer Länge von insgesamt 270 Kilometern fließt sie, aus dem griechischen Pindusgebirge kommend, durch Albanien. Sie gräbt dabei unzugängliche Schluchten in den Fels und bildet riesige Schotterströme, bis sie schließlich in die Adria mündet. Auch fast alle Zuflüsse, die sie nähren, sind unverbaut und bilden mit dem Hauptstrom ein zusammenhängendes Ökosystem. „Wenn man die alle mit in einen Nationalpark aufnehmen würde, käme man auf rund 100.000 Hektar Schutzfläche“, sagt Nika.

Die gezähmte Vjosa soll Strom exportieren

Doch auf der Suche nach erneuerbaren Energiequellen hat die albanische Regierung nicht weniger als acht große Querbauwerke geplant, die den Fluss in eine Aneinanderreihung von Stauseen verwandeln würden. Bisher deckt Albanien fast 80 Prozent seines Energiebedarfs mit drei großen Wasserkraftwerken im eigenen Land ab, die alle am Fluss Drin liegen. Den Rest kauft der Staat aus dem Ausland, vorwiegend Kohlestrom aus Serbien.

Mit den neuen Staudämmen will sich Albanien nicht nur aus dieser Abhängigkeit lösen und den steigenden Bedarf im eigenen Land decken, sondern auch Überschüsse produzieren, um sie ins Ausland verkaufen. 400 neue Kraftwerke sind in Planung, darunter 20 Kleinkraftwerke an den bislang unberührten Zuflüssen der Vjosa. Auch das Pleiteprojekt Kalivac ist nicht vom Tisch. Ein neuer Investor, diesmal ein aus der Türkei, hat sich gefunden.

Olsi Nika, Hydrobiologe

„Stauwehre haben wir Hunderttausende. Aber so etwas wie die Vjosa, das gibt es nur einmal!“

Übermütig klettert Olsi Nika auf den Schrottbagger, setzt sich auf den Greifarm und lässt heiter die Beine baumeln. Seine Hoffnung, dass der Umweltschutz doch noch triumphiert, liegt darin, dass möglichst viele Menschen von der Vjosa erfahren, von ihrer Schönheit, aber auch ihrer Gefährdung.

Was hieße es, wenn die 45 Meter hohe Staumauer bei Kalivac tatsächlich hochgezogen würde? Das zeigt Nika einige Kilometer stromaufwärts. Vom Örtchen Memaliaj führt ein Karrenweg durch hohe Ginsterbüsche und Wildblumenwiesen. Zwischen niedrigen Weiden lenkt eine Trittspur hinaus ins Flussbett in eine erstaunliche Landschaft. Auf einer Länge von rund 20 Kilometern hat die Vjosa ihr Bett auf fast zwei Kilometern Breite ausgedehnt.

Aus den Abertonnen an Felsgestein, die sie aus den Bergen anschleppt, zerkleinert und zermahlt, hat sie ein feingliedriges Mosaik gebildet aus Kiesinseln, Schotterströmen und Sandlinsen. Da hindurch windet sie sich, türkisgrün und gletscherblau, verzweigt wie ein großer blauer Baum mit seinen Ästen.

Krook, krook…kr, kr, kr

Vielerorts haben sich Teiche und Tümpel gebildet. Die Luft ist erfüllt von Pfeifen, Quaken und Singen. Ein melodisches Trillern ertönt aus einem der Pools: „Das sind Wechselkröten!“, erklärt Olsi Nika. Gleich darauf ein lautes Keckern: „Das ist jetzt der Seefrosch“, so der Biologe. Wenige Meter weiter ein rhythmisches krook, krook…kr, kr, kr. „So balzt der Balkanfrosch“, sagt Olsi Nika. Er bläst seine Wangen auf, lässt die Luft entweichen und imitiert den Ruf des liebeshungrigen Froschs. Jetzt steigt aus dem Weidengebüsch ein lockendes Crescendo auf: die Nachtigall.

Nika macht eine ausholende Handbewegung und sagt: „Das ist das Herzstück der Vjosa, diese Unberührtheit, das ist einzigartig in Europa!“ Etliche Rote-Liste-Arten leben hier, viele aus Westeuropa verschwunden oder extrem rar geworden. Dieses Naturjuwel, dazu fruchtbare Felder, die an den Uferterrassen liegen, drohen in einem fast 7.000 Hektar großen Stausee zu verschwinden. Zum Vergleich: Der Starnberger See, der fünftgrößte See Deutschlands, ist nur 5.800 Hektar groß.

An der Straße nach Memalija liegt das Restaurant von Arjam Legai. Außen am Haus kleben Lehm­nester der Rauchschwalbe. Eine Schwalbenfamilie lässt der 46-jährige Restaurantbesitzer sogar im Haus nisten, direkt in der Kuppel seines blitzsauberen Speisesaals. Legai deutet mit der Hand zur Decke. „Wenn der Damm kommt, dann steht das Wasser fünf Meter über meinem Restaurant. Dann müssen meine Familie und ich unser Leben, unser Haus, unser Geschäft aufgeben.“

Zamir Dedej

„Soll ich den Menschen, die unter Stromausfällen leiden, sagen, wir müssen die Frösche retten?“

Von Anfang an sei er gegen den Damm gewesen, so wie die meisten Anwohner. „Als noch gebaut wurde, haben wir demonstriert, es kam sogar zu Zusammenstößen mit der Polizei!“ Legai hält kurz inne. „Der Fluss ist unsere Heimat, wir kennen viele Lieder über die Vjosa, und Eltern nennen ihre Töchter nach ihr. Wenn das Kraftwerk kommt, macht ein einziges Unternehmen damit Profit, den Fluss zu zerstören.“

Auch Sotir Zahoaliaj fürchtet die Regierungspläne. Der pensionierte Elektriker lebt in Brataj, einem Dorf am Hochufer der Shushiza, einem Zufluss der Vjosa, unweit ihrer Mündung ins Meer. Gelenkig klettert der ältere Herr den Steig zum Fluss hinunter. Auf einer Steinbrücke aus der venezianischen Zeit, die sich über eine Schlucht wölbt, macht er Halt. Der Blick fällt hinunter auf die mintgrüne Shushiza, die zwischen weißen Kalkfelsblöcken dahinspringt und tiefe Gumpen bildet. Zwei junge Männer aus dem Ort sind dabei, in einem dieser glasklaren Becken Forellen zu jagen. Glockengebimmel und Hufgetrappel ertönen, ein Ziegenhirte mit seiner Herde kommt an den Fluss, um die Tiere zu tränken.

Pipeline statt Fluss

Mit dieser Harmonie könnte es bald vorbei sein, denn vier Kleinkraftwerke in Reihe sind hier geplant. Das Ergebnis: Die Shushiza würde auf mehr als 40 Kilometern Länge in Pipelines verschwinden, Fischfang, Viehwirtschaft wären nicht mehr möglich. Erwartete Gesamtleistung des Projekts: 15 Megawatt. „Diese geringe Leistung rechtfertigt nicht einen solche Zerstörung“, sagt Hydrobiologe Nika.

Sotir Zahoaliaj holt sein Smartphone hervor und wischt ein Foto herbei. Es zeigt die Shu­shiza bei Hochwasser, wie sie als beeindruckender Schwall unter der Brücken hindurchschießt. „Wenn der Fluss trocken fällt, steht unsere Brücke nutzlos herum!“, ruft er. Mit der Vergangenheit so umzugehen, das empört ihn. Vor einiger Zeit, so berichtet er, seien die Investoren ins Dorf gekommen, um einen Informationsabend abzuhalten. „Viele Bürger haben Einwände geäußert“, erinnert er sich. „Aber später behaupteten die Betreiber, es hätte keine Gegenstimmen gegeben. Dabei ist ganz Brataj gegen das Projekt!“ Alle Versuche der Bürger, den Parlamentsabgeordneten ihres Wahlkreises zu kontaktieren, seien fehlgeschlagen.

Widerstand kann erfolgreich sein. Das zeigt der Sieg, den Eco-Albania vor zwei Jahren gemeinsam mit den Bewohnern von Kutë errungen hat. Dort hatten sie erfolgreich gegen den Bau eines anderen Kraftwerks geklagt. Ein Stausee hätte Kutë und 3.000 Hektar Ackerfläche unter Wasser gesetzt. Ein Verwaltungsgericht befand die Bürgerbeteiligung als äußerst mangelhaft, ebenso die Umweltverträglichkeitsprüfung. „Die war mit copy and paste zusammengeschustert“, erinnert sich Olsi Nika. Zwar gingen das Energieministerium und der Investor in die Berufung, doch die albanischen Gerichte sind überlastet, das Verfahren ist in der Schwebe. So gilt das vorläufige Bauverbot und verschafft den Umweltschützern Zeit.

Kein Platz für einen Nationalpark

Zamir Dedej, ein Mitarbeiter des Umweltministeriums, ist als Biologe zuständig für Naturschutzgebiete. Der große Mann zeigt sich wenig begeistert von der Vorstellung eines Vjosa-Nationalparks. „Wir haben zu wenig Platz in Albanien, wir können diesen Platz nicht opfern“, sagt Dedej und gibt damit die offizielle Auffassung der Regierung wieder. Er sagt auch: „Ich zweifle den Artenreichtum an, den die Umweltschutzorganisationen an der Vjosa vermuten.“ Zudem gebe es Menschen in ländlichen Regionen, die mehrmals am Tag unter Stromausfall litten. „Soll ich denen sagen, wir müssen die Frösche retten?“, fragt Dedej.

Olsi Nika kennt diesen Diskurs nur zu gut: „Der Artenreichtum der Vjosa ist noch gar nicht erfasst.“ Erst 2017 seien 30 Artenforscher und Bodenkundler an den Fluss gereist. „In nur fünf Tagen haben sie dort vierzig Arten entdeckt, deren Existenz bislang in Albanien unbekannt war, sowie zwei für die Wissenschaftswelt ganz neue Arten.“ Nika kritisiert, dass das Elektrizitätsnetz schlecht gewartet werde. „Allein dadurch verlieren wir 27 Prozent des produzierten Stroms.“ Zudem habe die albanische Regierung es bisher verpasst, in erneuerbaren Quellen wie Sonne und Wind zu investieren.

Das bestätigt eine Studie, die 2017 von IRENA, der Internationale Organisation für erneuerbare Energien, publiziert wurde und sich dem Potential von Photovoltaik und Windkraft in Südosteuropa widmet. Österreichische und slowenische Ökonomen haben darin für Albanien bis zum Jahr 2030 allein für die Windenergie ein Potential errechnet, das – verglichen mit Kohleverstromung – dreimal so groß wie das der Wasserkraft wäre – und dazu kosteneffizient. Doch erstens fehlen in Albanien die Fachleute für Wind- und Solarenergie.

Konkurrenzlos lukrativ

Zweitens ist der Bau von Wasserkraftwerken ganz einfach konkurrenzlos lukrativ. „Die Investoren schließen nämlich immer auch einen Vertrag mit dem staatlichen Elektrizitätsversorgungsunternehmen über feste Einspeisetarife ab“, erklärt Olsi Nika. „Und die gelten dann über die gesamte Laufzeit von gut 30 Jahren, egal wie die Preise auf dem Strommarkt schwanken.“ Eine solche Sicherheit gibt es für Wind- und Solarenergie nicht.

Ayen-Alb heißt das Unternehmen, das vor einiger Zeit die Konzession für das geplante Wasserkraftwerk Kalivac erworben hat. Auf seiner Webseite verspricht der Investor „die Produktion von grüner und sauberer Energie durch Wasserkraft, bei maximalem Schutz für die Umwelt“. Gerne würde man erfahren, wie es der Firma gelingen will, in vier Monaten eine seriöse Umweltverträglichkeitsprüfung durchzuführen, wie jüngst angekündigt. Doch die Pressestelle der Firma ist nicht erreichbar.

Olsi Nika, albanischer Biologe und Fluss-Schützer

Der Biologe Olsi Nika kämpf für die wilde Vjosa Foto: privat

Der Wasserexperte Olsi Nika stößt ein sarkastisches Lachen aus und sagt: „Um die Folgen eines so großen Kraftwerks zu erfassen, braucht man einen Zeitraum von drei Jahren!“ Das Querbauwerk würde nicht nur die Landschaft oberhalb unter Wasser setzen, sondern auch den gesamten Fluss abwärts bis zur Mündung beeinträchtigen. „Allein das Kalivac-Wehr würde pro Jahr fünf Millionen Tonnen Sedimente aufhalten“, sagt Nika.

„Diese Mengen Kies und Sand fehlen dann unten an der Mündung, wo die Vjosa in die Narta-Lagune fließt.“ Dieses Feuchtgebiet wiederum ist ein besonders wichtiger Rast- und Brutplatz für Wasservögel wie Pelikane und Flamingos, aber auch für viele Zugvögel wie Schwalben. An die 80.000 Vögel leben zuweilen gleichzeitig an der Narta-Lagune.

EU-Beitrittsprozess könnte die Vjosa retten

Ist die Vjosa noch zu retten? Ein Hebel läge in der Eröffnung der EU-Beitrittsverhandlungen mit Albanien, immerhin ist das Land offizieller Beitrittskandidat. EcoAlbania macht entsprechenden Druck. Denn liefen einmal konkrete Verhandlungen, könnte die EU-Kommission von der albanischen Regierung fordern, besonders wertvolle Regionen wie den Lauf der Vjosa als Schutzgebiet auszuweisen. Damit fielen die Kraftwerksprojekte buchstäblich ins Wasser. Zudem haben die drei NGOs eine Beschwerde bei der Berner Konvention eingereicht, ein völkerrechtlicher Vertrag zum Schutz von wild lebenden Arten, den auch Albanien unterzeichnet hat.

Die größte Chance aber liegt im Widerstand der albanischen Bürger selbst, die es satt haben, dass ihre Flüsse verbaut und ihre Felder überschwemmt werden. Deshalb ist Olsi Nika in den letzten Monaten mit einem Kampagnenfilm durchs Land gezogen. „Denn Stauwehre haben wir hunderttausende in Europa“, sagt der junge Biologe. „Aber so etwas wie die Vjosa, das gibt es nur einmal!“

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