„Schmerzvoll ist die Einsamkeit“

Ina Tolksdorf ist Mitbegründerin der Initiative „Die Kinder von Lügde“. Die Bewegung will Anlaufstelle für Betroffene von sexuellem Missbrauch sein und fordert ein Umdenken der Politik

Absperrband auf dem Campingplatz in Lügde: Die dort missbrauchten Kinder nicht alleine lassen Foto: Guido Kirchner/dpa

Interview Friederike Gräff

taz: Wie kamen Sie dazu, Briefe an die in Lügde missbrauchten Kinder zu sammeln, Frau Tolksdorf?

Ina Tolksdorf: Nach den Geschehnissen in Lügde ist viel in Bewegung gekommen und wir merkten, dass es Menschen gibt, die sich den Kindern mitteilen möchten, weil es ihnen unglaublich leid tut, was da passiert ist. Auf der anderen Seite sind wir fest davon überzeugt, dass es den Kindern und Jugendlichen gut tut, wenn sie Zuspruch bekommen und sie besonders einfühlsame Worte von Menschen lesen können, die ebenfalls Missbrauch erleben mussten.

Kann es nicht eine Belastung für Opfer sein, wenn sie von Unbekannten Post erhalten und damit das Gefühl: Die ganze Welt weiß von dem, was mir widerfahren ist?

Die Briefe werden den Kindern natürlich nicht persönlich zugestellt. Wir kennen die Namen und Adressen nicht. Aber dass es passiert ist, weiß ohnehin die ganze Öffentlichkeit. Was oft sehr schmerzvoll ist, ist die Einsamkeit. Ob die Kinder und Jugendlichen die Briefe im Internet lesen oder nicht, ist ihnen freigestellt – ich habe aber die Rückmeldung, dass es von einigen gelesen wird und dass sie darum bitten, mehr davon zu bekommen.

Wie erklären Sie, dass es so viele frühere Opfer sind, die Briefe schreiben?

Als wir im März mit unserer Arbeit anfingen, sind wir total überrascht worden von der Vielzahl der Menschen, die selber von Missbrauch betroffen sind, die hier anrufen, die wir auf unseren Mahnwachen treffen, auf unseren Demonstrationen. Sie wagen jetzt, darüber zu sprechen, es öffentlich zu machen. Jeder siebte Erwachsene ist selber Betroffener von sexuellem Missbrauch. Wir müssen helfen, dass das enttabuisiert wird. Wenn wir das Schweigen brechen, brechen wir die Macht der Täter.

Sie erheben auch ganz konkrete politische Forderungen.

Wir wünschen uns, dass Kinder als unser allerhöchstes Gut angesehen werden. Von der Gesellschaft und von der Politik. Es darf nicht sein, dass im Bereich Kinderschutz immer zu wenig Geld da ist. Das, was wir heute einsparen, müssen wir morgen um ein Vielfaches bezahlen. Geld für unsere Kinder sind keine Kosten – das sind Investitionen! Die Jugendämter müssen genügend qualifizierte Mitarbeiter haben, die nicht mit Fällen überlastet sind. Blutjunge Berufsanfänger dürfen nicht mit Kinderschutzfällen belastet werden. Wir brauchen unbedingt einen unabhängigen Missbrauchsbeauftragen auf Landesebene. Auf Bundesebene gibt es das ja schon sehr erfolgreich seit einigen Jahren, aber viele Länder sträuben sich dagegen.

Es gab schon vor Jahren Hinweise bei der Polizei darauf, dass einer der Täter in Lügde Kinder missbrauchte. Warum wurden denen nicht weiter nachgegangen?

Mein Mann und ich kritisieren auch Haltungen, bei den Jugendämtern, bei der Polizei. Egal, wie oft diese Mitarbeiter schon in zerrütteten Familien waren, egal, wie abgebrüht man vielleicht mit der Zeit wird, es muss immer noch das einzelne, zu schützende Kind gesehen werden. Mit den Menschen, die etwas melden, muss so umgegangen werden, dass sie spüren, es ist gut hinzuschauen. Es gibt natürlich auch viele engagierte Menschen in Jugendämtern und bei der Polizei, aber eine einzige Meldung, die nicht ernst genug genommen wird, kann für ein Kind lebensgefährlich sein. Es wäre auch zu begrüßen, es gäbe in jeder Stadt, in der es ein Jugendamt gibt, auch eine unabhängige Ombudsstelle, an die sich Eltern, Lehrer, Freunde wenden könnten.

Von dem Missbrauch in Lügde sind 31 Kinder betroffen …

… es sind mehr. Über den Missbrauch von 31 Kindern wird jetzt vor Gericht verhandelt, aber es gibt auch Fälle, bei denen die Identitäten nicht geklärt sind, und solche, die verjährt sind …

Warum ist es nur bei ganz wenigen dem Umfeld aufgefallen, dass die Kinder missbraucht wurden? Oder fiel es auf und niemand handelte?

Wenn ich das wüsste. Ich bekomme immer wieder die Rückmeldung, dass man auf Campingplätzen doch eigentlich alles mitbekommt. Aber es zeigt auf, dass ein großer Teil der Bevölkerung sich einfach nicht vorstellen kann oder mag, dass solch schreckliche Taten möglich sind. Und dass es Opfer und auch Täter in meinem nächsten Umfeld gibt. Ich bin schlicht entsetzt und traurig – aber ich kann nur bei mir selber anfangen und versuchen, meine Augen und Ohren aufzumachen.

Wie kam es dazu, dass Sie eine Initiative gegründet haben, die sich öffentlich engagiert?

Der Beginn war, dass wir im Freundeskreis vollkommen entsetzt waren, was da passiert ist. Wir wollten einen Ort schaffen, an den Menschen, die betroffen sind, hinkommen können, und wir wollten in dem ganzen Chaos von Schuldzuweisungen schauen, dass die Kinder nicht aus dem Blick geraten.

Was tun Sie da konkret?

Wir haben angefangen mit wöchentlichen Schweigeaktionen in Hameln. Dann haben wir uns an die Behörden und die Politik gewandt. Wir sind weiterhin im Gespräch mit der Landespolitik und hoffen sehr auf Veränderungen. Im September startet eine Selbsthilfegruppe für Betroffene von sexuellem Missbrauch in Hameln. Wir organisieren Mahnwachen und Demonstrationen. Außerdem sammeln wir Unterschriften, um die Verjährungsfrist für Missbrauch an Kindern aufzuheben. Wenn sich die Betroffenen trauen, die Taten anzuzeigen, sind sie meist verjährt und die Täter laufen frei herum.

Eine der Forderungen sind unangemeldete Besuche des Jugendamts. Sie haben geschrieben: „Ich als Pflegemutter würde mir das wünschen.“

Foto: privat

Ina Tolksdorf, 51, ist Mit­begründerin der Initiative „Für die Kinder von Lügde“ und seit 25 Jahren Pflegemutter.

Nehmen wir mal an, Sie ­zeigen eine wahrscheinliche Kindeswohlgefährdung an, diese wird ernst genommen und es soll ein Hausbesuch gemacht werden: Dann wird dieser vorher erst mal angekündigt. Dann hat jede Familie Zeit, Ordnung zu machen, und wenn das Jugendamt kommt, gibt es Kaffee und alles ist nett. Aber wann passieren denn die Taten? Am Abend, am Wochenende sind die TäterInnen meist da und es wird oftmals getrunken. Wenn ich weiß, ich helfe mit einer solchen Botschaft Kindern, die vielleicht irgendwo im Hinterzimmer verdursten, wenn ich sage: Das Jugendamt sollte jederzeit bei jeder Familie vorbeischauen dürfen und das müsste etwas ganz Normales sein – warum sollte ich mich da gegen solche Besuche wehren? Jede Woche sterben in Deutschland zwei bis drei Kinder an Misshandlungen, meist sind die eigenen Eltern die Täter.

Der Einwand ist oft, dass man die Privatsphäre der Familien schützen möchte.

Der Schutz des Häuslichen darf doch nicht über dem Schutz der Kinder stehen. Ich weiß, dass es eine Provokation ist, aber wie wollen Sie sonst dahinterkommen, dass es Kindern nicht gut geht?

Müsste nicht das soziale Umfeld da eine wichtige Rolle spielen, Kitas und Schulen etwa?

Was ich auch jetzt erst gelernt habe: Betroffene Kinder empfinden Kindergarten und Schule oft als sicheren Raum, wo sie sich nicht öffnen, weil sie diesen nicht verlieren wollen. Aber was noch viel wichtiger ist: In allen Berufsgruppen, die mit Kindern zu tun haben, Erzieher, Pädagogen, Jugendamtsmitarbeiter, Therapeuten, Familienrichter, Ärzte – nirgends gibt es eine fundierte Ausbildung in Sachen Kinderschutz. Ärzte etwa glauben oft, sie unterlägen da der Schweigepflicht und melden vieles nicht. Man will nicht, dass es so etwas gibt – und dann will man es unbewusst auch nicht wahrhaben. Aber wenn ich mir klar darüber bin, dass es so viele Fälle gibt, weil ich entsprechend ausgebildet bin, dann deute ich sicherlich einige Zeichen von Kindern anders.

Auf Ihrer Internetseite dis­tanzieren Sie sich ausdrücklich von rechtsextremen Bewegungen. Warum war das notwendig?

Sobald Sie anfangen, in diesem Bereich zu arbeiten, bekommen Sie Beifall von der Seite. Wir hören Sprüche, was sie alles mit den Tätern machen würden, wir bräuchten die Todesstrafe wieder und so weiter. Davon distanzieren wir uns unbedingt. Wir sind aufgestanden für die Kinder.

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