Die Normalität des Leides

Tierrechtler*innen aus dem Norden wollen Samstag in Bremen abschreckende Videos zeigen. Ihr Ziel ist nicht Tierschutz, sondern die Abschaffung jeglicher Tiernutzung

Aktivist*innen zeigen das Tierleid F: Frische

Von Lotta D
rügemöller

Auch wenn das Agrarpolitische Bündnis Bremen seit Jahren einigermaßen erfolgreich eine Billigfleischbremse fordert – in den Supermärkten hierzulande nehmen Käse und Eier, Putenbrüste und Schweinegulasch dennoch einen großen Teil der Ladenfläche ein. Und so hat sich die Tierrechtsinitiative „Anonymous for the Voiceless“ für dieses Wochenende in Bremen verabredet, um mit Videos auf die Folgen unseres Konsums aufmerksam zu machen.

„Cube of Truth“ nennt sich die Aktion, schwarzgekleidete Aktivist*innen bilden ein Rechteck und tragen neben unvermeidlichen Guy-Fawkes-Masken auch Laptops, auf denen unschöne Szenen der Tierhaltung gezeigt werden. Neu ist das nicht: Seit 2017 ist ein Grüppchen der „Anonymous for the Voiceless“ regelmäßig in Bremen unterwegs. Doch dieses Mal holt man sich Verstärkung aus Hamburg, Oldenburg und Hannover – bis zu 60 Aktivist*innen sollen für mehr Aufmerksamkeit sorgen.

Die ist wichtig, denn offensiv ansprechen wollen die Demonstrant*innen niemanden. „Die Leute müssen von sich aus stehen bleiben“, erklärt Sprecherin Pia Frische. Obwohl die Gesprächspartner*innen also Interesse am Thema bereits mitbringen, machen die Aktivist*innen immer wieder die Erfahrung, dass die meisten Menschen die Videos aus Schlachthöfen und Ställen nicht kennen – und schockiert sind. „Neben der Milch im Supermarkt sieht man halt stattdessen Werbung von glücklichen Kühen auf grünen Weiden“, so Frische.

Dabei hält „Ano­nymous for the Voiceless“ auch diese Idylle für verdammenswert. Es geht den Aktivist*innen um mehr als ein paar Zentimeter mehr fürs Huhn und Schnüffelheu für Schweineschnauzen.

Ihr Thema ist nicht Tierschutz, sondern eine Revolution: „Wir sind der Ansicht, dass Tiere überhaupt nicht genutzt werden sollten. Sie haben ein Recht, für sich selbst zu existieren“, erklärt Frische. Folgerichtig werden in den Videos auch legale Abläufe gezeigt: Die Kuh, die auf der Wiese lebt – aber ihrem Kalb hinterher schreit, dass zum Schlachter gebracht wird. „Das sind keine Schockvideos“, so Frische. „Das ist die Normalität.“

Mit ihrer Forderung nach Abschaffung jeder Nutzung und ihrer Begründung mit dem inhärenten Wert der Tiere gehen die Tierrechtler weiter als viele Ethiker, die Tiere als moralische Subjekte sehen, weil und insofern sie leiden können. Dieser „pathologische“ Ansatz, Tierleid zu vermeiden, ist erst seit den 1970er-Jahren in der Moralphilosophie zu einer Art Minimalkonsens geworden. „Offenbar gibt es tatsächlich so etwas wie moralischen Fortschritt“, glaubt Dagmar Borchers, Philosophieprofessorin an der Uni Bremen, „es ist nicht mehr völlig schnurz, wie wir mit Tieren umgehen.“

Eingehalten wird dieser Anspruch in der Realität nicht: Gerade einmal zehn Prozent des Fleisches in Supermärkten kommt aus der tierfreundlicheren Haltungsform 4, verkündete gerade die Verbraucherzen­trale Bremen das Ergebnis eines Marktchecks; mehr als die Hälfte erreicht nur den Mindeststandard.

Dabei sind Schlachthöfe und Massentierhaltung laut Borchers ethisch nicht zu rechtfertigen. Die Untätigkeit erklärt sie historisch: „Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte der Tiernutzung und -tötung.“ Im Christentum wie in der westlichen Vernunfttradition wurde über Jahrhunderte eine Kluft zwischen Mensch und Tier aufgebaut.

„Anonymous for the Voiceless“ zeigen ihre „Cubes of Truth“ mit den Videos am Samstag von 14 bis etwa 17 Uhr auf dem Marktplatz

„Anonymous for the future“ wollen an die Vernunft der Konsument*innen appellieren. „Man kann niemandem vorschreiben, was er oder sie zu essen hat, man muss da selbst drauf kommen“, erklärt Frische – und ergänzt, dass auch die Aktivist*innen selbst nicht vegan aufgewachsen, sondern irgendwann „aufgewacht“ seien.

Heute leben, je nach Umfrage, etwa vier bis zehn Prozent der Bevölkerung vegetarisch, etwa 950.000 Deutsche sind Veganer*innen. Frische bleibt dennoch Optimistin: „Die Abschaffung jeglicher Tiernutzung ist kein kurzfristiges Ziel, das wird über Generationen hinweg umgesetzt.“ Dann aber habe die Menschheit gar keine andere Wahl: „Unabhängig von ethischen Aspekten wird es durch Ressourcenknappheit, Überbevölkerung und Klimawandel irgendwann nicht mehr möglich sein, Tiere zu halten.“

Bei aller Radikalität: Politische Forderungen stellt das Bündnis nicht. Auch Professorin Borchers setzt auf Eigenverantwortung. „Man soll nicht vorschreiben, ob wir Fleisch essen dürfen“, findet die Vegetarierin. „Moral ist ein Kind der Freiheit.“

Dabei könnte man die Bremer Politik durchaus als Verbündeten begreifen. Im Koalitionsvertrag zeigt Rot-Grün-Rot wenig Angst vorm Veggie-Day: In allen öffentlichen Kantinen wolle man ein günstiges veganes Angebot schaffen, heißt es dort, und im Studierendenwerk solle weniger Fleisch und Fisch serviert werden, „zum Beispiel, indem nur noch an einem Tag pro Woche Fleisch oder Fisch bei den hochsubventionierten ­Essen 1/Essen 2 angeboten wird.“