heute in hamburg: „Relativierung der deutschen Schuld“
Vortrag über die Unterstützung von NS-Kriegsverbrechern in der Bonner Republik: 19 Uhr, Mahnmal St. Nikolai, Willy-Brandt-Straße 60, Eintritt frei
Interview Inga Kemper
taz: Herr Bohr, warum hat sich Willy Brandt (SPD) für die Freilassung von NS-Kriegsverbrechern eingesetzt?
Felix Bohr: Willy Brandt führte in seiner Zeit als Außenminister und als Bundeskanzler einerseits die Politik der Kriegsverbrecherhilfe seiner Vorgängerregierungen fort. Zum anderen begann er sich für Häftlinge einzusetzen, weil das damals die Parteipolitik der SPD war. In der jungen Bundesrepublik konnte man nur Volkspartei sein, wenn man auch auf dieses Milieu, also die Lobbygruppen der NS-Täter, zuging.
Wie stark war denn diese Lobby in den 1970er-Jahren, als Brandt schon Bundeskanzler war?
Die Lobbygruppen, also die Vereinigungen der alten Kameraden mit ehemaligen SS-Männern oder Soldaten, hatten 1977 noch über zwei Millionen Mitglieder. Aber nicht alle Unterstützer waren in den Vereinigungen organisiert. In weiten Teilen der Gesellschaft, gerade im konservativen Milieu, ging es auch um die Deutungshoheit über die deutsche Geschichte und die Relativierung der deutschen Schuld. Solange aber diese Männer im Ausland inhaftiert waren, saßen dort noch lebende Beweise dieser Schuld, denn das waren ja rechtskräftig verurteilte Kriegsverbrecher.
Welche Fälle haben Sie untersucht?
Felix Bohr, 37, ist „Spiegel“-Journalist, Historiker und Autor des Buchs: „Die Kriegsverbrecherlobby“.
Das waren fünf Kriegsverbrecher und NS-Täter und die einzigen, die über mehrere Jahrzehnte im westeuropäischen Ausland in Haft saßen. Die weitaus größte Zahl der deutschen Täter kam bereits in den 1950er-Jahren frei. Wegen ihrer Besatzungsverbrechen, die sie in den Niederlanden und Italien begangen hatten, waren diese fünf Täter berüchtigt und zu bekannt, um amnestiert zu werden. Herbert Kappler beispielsweise hatte das Massaker in den Ardeatinischen Höhlen organisiert. Dort wurden am 24. März 1944 in einer sogenannten Sühnemaßnahme 335 Italiener per Genickschuss hingerichtet. Das waren willkürlich ausgewählte Menschen.
Wie ging die Bundesregierung mit den Tätern nach ihrer Freilassung um?
Im Fall Kappler sehr zögerlich. Kappler ist 1977 aus einem Militärkrankenhaus in Rom geflohen. Vorher wurde er jahrzehntelang von der Bundesregierung rechtlich und politisch unterstützt. Da fällt schon auf, dass sich die Bundesregierung unter Kanzler Helmut Schmidt (SPD) mit einer Reaktion schwer tat. Sie reagierte erst mal gar nicht, während es in Italien einen öffentlichen Aufschrei gab. Kappler floh nach Soltau, wo er mit Blumen empfangen wurde. Noch in den 1970er-Jahren wurden diese Männer nur in den seltensten Fällen als Kriegsverbrecher bezeichnet, sondern als Kriegsverurteilte.
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