: Bahnbrechende Studien aus Charlottengrad
Karl Schlögel liest aus seinem Buch „Das russische Berlin“ im Literaturhaus in der Fasanenstraße, einst zentraler Ort der Exilgemeinde
Von Katja Kollmann
Vor 91 Jahren wurde Jurij Eichenbald am Kurfürstendamm von einer Straßenbahn überfahren. Der Intellektuelle war einer der circa 300.000 russischen Emigranten, die sich vorwiegend in Charlottenburg und Wilmersdorf angesiedelt hatten und diesen Ort liebevoll in Charlottengrad umtauften.
Eichenbald war seit 1927 regelmäßiger Gast im Humboldthaus in der Fasanenstraße 23. Die Alexander-von-Humboldt-Stiftung des Auswärtigen Amtes, die ausländische Studierende in Berlin mit Stipendien unterstützte, hatte die Villa 1927 als Raum der Begegnung angemietet.
Jurij Eichenbald hat bestimmt am 13. Dezember 1927 den ersten literarischen Abend des russischen Studentenklubs „Na Tscherdake“ (Auf dem Dachboden) im Humboldthaus besucht und den ausdrucksstarken ( so beschrieben in der Emigrantenzeitschrift Rul) Gedichten des jungen Poeten „Wladimir Sirin“ gelauscht.
Sirin, ein Pseudonym von Vladimir Nabokov, stand damals im großen Saal und fasste dort seine große Sehnsucht nach der verlorenen Heimat in Worte. Eichenbald hatte sich in Berlin eine Schreibmaschine der Firma Rheinmetall gekauft, die nach dem Ersten Weltkrieg dort produziert worden war und russische Lettern hatte. Wahrscheinlich konnte man das laute Klappern genau dieser Schreibmaschine im Wintergarten der Villa hören.
Heute ist die kriegsunversehrte Jugendstilvilla der Standort des Literaturhauses Berlin. Jurij Eichenbalds Schreibmaschine steht inzwischen in einem Berliner Archiv. Der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel hat zur Lesung aus seinem Buch „Das russische Berlin“ eine Fotografie dieser Schreibmaschine mitgebracht, die als Projektion den großen Saal dominiert und Schlögels Herangehensweise wunderbar illustriert – über die Betrachtung von konkreten Gegenständen, Orten und Personen einen Zugang zu geschichtlichen Prozessen finden. „Sie können an jedem Punkt die ganze Geschichte erzählen – und wenn es nur ein Tropfen Parfum ist“, unterstreicht Schlögel seine Methode im Gespräch mit der Literaturwissenschaftlerin Alina Gramova.
„Das russische Berlin“ ist erstmals 1998 erschienen, 2007 gab es eine Neuauflage mit einem Zusatztext, der sich mit dem russischen Berlin nach 1990 beschäftigt. 2019 folgt nun die dritte, erweiterte Auflage bei Suhrkamp – mit 25 Kapiteln, darunter drei komplett neue Topoi. Gramova sieht Schlögel als die Synthese aus Historiker, Ethnografen und Archäologen. So hat er bahnbrechende Pionierstudien zur Migrationsforschung aus den 20er, 30er und 40er Jahren wiederentdeckt, die von drei Charlottengrader Bewohnern stammten: Alexander und Evgenij (Eugen) Kulischer und Joseph Schechtman.
Der 71-Jährige liest im überfüllten Saal aus diesem Kapitel vor, das er mit „Displacement“ im „Jahrhundert der Flüchtlinge“ betitelt hat. 1932 erscheint im renommierten Wissenschaftsverlag Walter de Gruyter (Berlin und Leipzig) das Buch „Kriegs- und Wanderzüge. Weltgeschichte als Völkerbewegung“ von Alexander und Eugen Kulischer.
Es stößt auf große internationale Resonanz. In der neuen Ausgabe des „russischen Berlin“ ist eine Fotografie aus dem Jahr 1933 abgedruckt. In jenem Jahr leben viele Charlottengrader bereits in Frankreich im Pariser Exil. Das Foto erzählt von einem Redaktionstreffen der Zeitschrift Rasswjet in Paris, an dem Alexander Kulischer und Joseph Schechtman teilnehmen. Alexander Kulischer kommt 1942 im Lager Drancy um. Sein Bruder rettet sich in die USA, prägt den Begriff der „Displaced persons“ und kommt zu dem bezwingenden Schluss: Das Territorium einer größeren Föderation kann den Weg ebnen für eine freie und ungehinderte Migration. Und Jurij Eichenbald? Er hat seine ewige Ruhe in Zehlendorf gefunden.
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