piwik no script img

Wald mit Wolf

Gesehen hat ihn fast keiner. Aber alle reden von ihm

Von Manuela Heim

Seit vier Jahren beziehen wir temporär eine Hütte im Wald, südliches Brandenburg. Mit Wald meine ich, dass man ziemlich lange unter sehr vielen Bäumen laufen muss, ehe man wieder auf Menschen trifft. Ich weiß das, denn ich habe mich dort schon einmal vier lange Stunden verlaufen. Seit einiger Zeit leben wir jedenfalls Hütte an Bau, Fuß an Pfote mit dem Wolf.

Der Vorbesitzer, 80 Jahre alt, hat unsere Hütte vor vierzig Jahren mit eigenen Händen gebaut. Er erklärte uns den Gasanschluss und die Grubenleerung, dass wir nur heimischen Pflanzenschnitt im Wald abladen dürfen und wann die Hütte den nächsten Wetterschutzanstrich braucht. Er erzählte von Pilzen und Eimern voll Heidelbeeren, über Wölfe sprachen wir nicht. Es hatte fast die gesamten vierzig Jahre hier kein Wolfsrevier gegeben.

In unserem zweiten Jahr im Wald sahen wir eine weiße Hirschkuh. Wie eine Erscheinung, direkt aus dem Märchenland, Patronus aus Harry Potter, lief sie über den Waldweg. „Die kommen hier immer wieder vor“, erklärten Nachbarn, die einen Bewegungssensor zur Tierbeobachtung im Garten haben. Von Wölfen erzählten sie nichts.

Im vergangenen Jahr habe ich dann die erste Wolfsspur gesichtet, keine 100 Meter von unserer Hütte entfernt. Ich bin mir jedenfalls ziemlich sicher, leicht zu erkennen sind Wolfsspuren nicht. Eine Familie, neu in den Wald gezogen, erzählte, dass Förster und Jäger ihre Hunde nicht mehr mit in den Wald nähmen, zu gefährlich. Und dass der Nachbar nur noch mit der Axt rausgehe. Das aber eher wegen der Wildschweine. Als ich einmal in der aufziehenden Dunkelheit spazierte, stand ein Tier auf dem Weg. Zu groß für einen Fuchs, zu klein für Reh oder Hirsch, zu schlank für Wildschwein. Wohl war mir nicht. Als wir dann im Sommer mit Freunden und Kindern durch den Wald streiften, kam uns ein Mann entgegen, das passiert selten in dieser kaum bewanderten Gegend. „Auf keinen Fall“, sagte er, „dürfen die kleinen Kinder allein im Wald herumlaufen.“ Für Erwachsene sei der Wolf unbedenklich, kleine Kinder könne er als Beute sehen. Rot sollten wir tragen im Wald, rief er uns noch zu, bevor er wieder zwischen den Bäumen verschwand. Als hätte das dem Rotkäppchen genützt. Ich trage gedeckte Farben, so lassen sich leichter Rehe und Hirsche beobachten. Davon gebe es immer weniger, erzählte wiederum der Waldbesitzer: die Wölfe, schlecht für die Jäger.

Im Frühjahr diesen Jahres saß ich dann mit einigen Frauen am Lagerfeuer. Sie hätten Anfang Februar tatsächlich eine Gruppe Wölfe gesehen, erzählten zwei. Majestätisch hätten diese den Feldrand abgeschritten, sich gemächlich und ohne Angst getrollt. Wir sind in einem Camp unweit unserer Hütte, ich war vor drei Jahren schon hier, da hatten wir im Wald geschlafen. Diesmal nicht. Nicht wegen der Wölfe, sondern wegen der Jäger, es war Mai und die Schüsse hallten durch den Wald.

Riecht er das Blut?

Ob das überhaupt noch geht, ungeschützt im Wald schlafen, fragt eine der Frauen am Lagerfeuer. Und auch, wenn man menstruiere, fragt eine andere: ob der Wolf nicht das Blut rieche. Über was man so redet in Zeiten des Wolfs. Später sangen wir unter dem Vollmond ein Lied für die Wölfin, sprachen über die Märchen aus der „Wolfsfrau“ von Clarissa Pinkola Estés. In der Sage um La Loba, der Wolfsfrau, singt eine Alte über Wolfsknochen, die sie aus dem Staub der Wüste geklaubt hat. Singt, bis sich die Knochen zum Tier zusammenfügen und in eine vor Lebendigkeit berstende Frau verwandeln. Die Wölfin als Sinnbild der weiblichen Urkraft, Antithese zum bösen Wolf.

Sechs Rudel WölfInnen soll es jetzt in der Gegend geben.

Inzwischen bleiben wir nachts an der Hütte. Wenn ich unbekannte Wege gehe, nehme ich mein Handy mit, keine Lust auf eine Nacht im Wald. Auf den Kompost kommt nur, was keine Raubtiere anlocken könnte. Der Waldbesitzer hat die Zäune für seine Schafe hochgerüstet. Die Wiesen sind voll mit Rehen und Hirschen. Gleich mehrere davon leuchten weiß in diesem Jahr und offenbar sind es genug für alle, Jäger und Wölfe. Mit dem Nachbarn spreche ich über die Abwassergruben, die saniert werden müssen. Nicht über Wölfe.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen