: Steinmeier greift AfD frontal an
30 Jahre Mauerbau: Der Bundespräsident warnt vor Rechten, die das Erbe von 1989 für sich reklamieren
Von Stefan Reinecke
Nach fast zwei Stunden, einer bemerkenswerten Rede des Bundespräsidenten zu 30 Jahren Mauerbau und einer Debatte von Zeitzeugen, steht der Ex-SPD-Politiker Wolfgang Thierse auf und sagt: „Ich hätte mir vor fünf Jahren nie vorstellen können, dass die Verständigung unter Ostdeutschen so schwierig wird.“ Weil die Grundlage der Verständigung selbst brüchig geworden ist. Nicht hier im Bellevue, wo man gewohnt respektvoll Meinungen austauscht, sondern im Osten.
Eine Rede des Bundespräsidenten zum 58. Jahrestag des Mauerbaus hat etwas von Pflichtprogramm. Ganz ohne Erwartbares kommt auch Steinmeiers Rede nicht aus. Er wirbt routiniert um Verständnis für die Ostler und fordert einen „Solidarpakt der Wertschätzung“, ein Appell, der zu wohlfeil für ein nachhaltiges Echo ist. Dass viele Deutschland nach 1990 nur als „vergrößerte Bundesrepublik“ wollten, wird milde getadelt. Der Westler Steinmeier verweist, quasi als Street Credibiltiy, darauf, dass sein Wahlkreis lange in Brandenburg war. Dort habe er „Neues gelernt“. Das soll Persönliches ausdrücken, klingt aber allgemein.
Bemerkenswert ist Steinmeiers Rede, weil er die AfD, ohne sie zu erwähnen, frontal angreift. „Wenn politische Gruppierungen im Wahlkampf versuchen, das Erbe von 89 für ihre Angstparolen zu stehlen, dann ist das eine perfide Verdrehung der Geschichte“, so Steinmeier. Das zielt auf den Versuch der AfD, sich in Brandenburg als „Vollender der Wende“ zu inszenieren und die Demokratie als DDR 2.0 zu denunzieren. „Wer die Menschenwürde mit Füßen trat, der stand 1989 auf der falschen Seite der Geschichte. Wer heute Mitmenschen verunglimpft oder bedroht, wer das Gift des Hasses in die Gesellschaft trägt, der steht auch heute auf der falschen Seite“, so Steinmeier.
Der Bundespräsident verkörpert „die Einheit des Staates“. Daher rührt das ungeschriebene Gesetz, dass er sich bei Tagespolitik zurückhält. Steinmeier bewegt sich mit diesen Sätzen, die die Rechtspopulisten und die SED kurzschließen und Wahlplakate kommentieren, in Richtung der Grenze dieser Regel. Steinmeier tut dies bewusst, weil er in den Rechten eine Gefahr für die Demokratie erkennt. Sein Job ist es, qua Amt dies zu benennen, auch wenn sich dies mit Wahlkampf und Tagesgeschäft mischt. „Eine neue Faszination des Autoritären ist auch in westliche Gesellschaften tief eingedrungen.“
Sein Parteikollege Thierse beklagt indes den Mangel an ostdeutschem Selbstbewusstsein und den „Minderwertigkeitskomplex gegenüber dem Westen“. Die AfD spiele auf dieser Klaviatur. Darüber wird zu reden sein. Im Bellevue wird es noch drei Debatten in der Reihe „Geteilte Geschichte(n)“ geben.
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